Musik und Moral

Gibt es ein richtiges Hören im Falschen?

06:43 Minuten
Die Bandmitglieder von The Velvet Underground, aufgenommen in den 90er-Jahren
Ein Höhepunkt der Musik: Die Reunion der Band "The Velvet Underground" hätte auch Lester Bangs gefallen. © imago / Photoshot
Von Fabian Wolff · 15.07.2019
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Musik hören kann politisch sein und politische Ideologien lassen sich gut über Musik transportieren. Wie steht es also um die Beziehung zwischen Musik und Moral? Fabian Wolff geht dieser Frage in einer Serie nach.
Musikkritiker sind nicht cool. Trotzdem hat es Regisseur und Ex-"Rolling Stone"-Autor Cameron Crowe in seinem autobiografischen Film "Almost Famous" geschafft, dem Beruf ein Denkmal zu setzen. Der Lester Bangs im Film trägt Lederjacke, raucht und redet begeistert und begeisternd über Musik ohne jede Peinlichkeit.
"Musik, weißt du, wahre Musik, nicht einfach nur Rock ’n’ Roll, erwählt dich. Klar, sie lebt in deinem Auto oder wenn du allein bist in deinen Kopfhörern, die gewaltigen Landschaftsbilder und Engelschoräle, die sich vor deinem geistigen Auge abspielen. Das ist ein Ort, weit entfernt von dem gewaltigen Schoß Amerikas, der nur Harmlosigkeiten gebiert."

Ob Diskussionen über #MeToo und #BlackLivesMatter, Reaktionen auf den politischen Rechtsruck oder das simple Problem, wie mit Kunst von schlechten Menschen umgegangen werden soll: Immer öfter scheint das Hören von Popmusik mit moralischen Fragen verknüpft zu sein. In einer Wochenreihe beschäftigt sich Fabian Wolff damit, was passiert, wenn Musik und Moral zusammentreffen. Heute stellt er die Autoren Lester Bangs und Ellen Willis vor, zwei legendäre Figuren der Musikkritik der 70er-Jahre, die beide ganz eigene Antworten auf die Frage gefunden haben, ob es ein richtiges Hören im Falschen Leben gibt.

Der reale Lester Bangs lebt in kleinen Wohnungen in Detroit und New York. Er hastet Aufträgen hinterher und mag codeinhaltigen Hustensaft. Weil der billig ist und trotzdem knallt. Anders als der weise Mentor der Hauptfigur in Crowes Film ist er sperrig, kontrovers und oft einfach unangenehm.

Nur die Kettensäge versteht mich

Für Plastik hat er nur Spott übrig. Seine Lieblingsmusik muss wehtun, und sei es, weil sie schmerzhaft laut ist. Hinter dieser Sehnsucht steckt ein ganzes Menschenbild, das Bangs folgendermaßen zusammenfasst:
"Für viele fühlt sich das Leben wie das schmerzhafte Zucken eines Nervs an, vielleicht sogar wie eine richtige Panikattacke. Auch mir ging es schon so. Für diese Wagemutigen oder einfach nur emotional Beschädigten sind Kreischen, Grölen, Kettensägenjaulen kein Lärm, sondern die wohlklingende Bestätigung, dass jemand sie wirklich versteht."
Seine Provokationen können nerven. Bangs glänzt dann, wenn er wirklich verzweifelt ist, diese Verzweiflung in einem Stück Musik zu erkennen scheint und wieder Hoffnung gewinnt. Deswegen zieht es ihn zu Bands wie "Richard Hell & the Voidoids" und den "Talking Heads", wie er in einem Interview 1979 erklärt:
"Die Idee war, völlig bei null anzufangen und sich selbst und damit die Gesellschaft neu zu erfinden. Echte Anarchie, auch wenn dieses Wort so oft malträtiert wird. Und in diesem Akt der Neuerfindung entsteht etwas, das nicht nur originell und kreativ und künstlerisch wertvoll ist, sondern vielleicht sogar anständig, moralisch und gut. Wenn ich solche Begriffe verwenden darf."
Bangs' Hoffnungen werden schnell enttäuscht. Er schreibt einen umstrittenen Essay über ironischen Rassismus in der Punkszene, der für ihn die Grenze zu echtem Rassismus überschreitet, und nennt dabei Namen. Das kommt nicht gut an. Auch, weil er selbst allzu gern mit diskriminierenden Schimpfwörtern herumschmeißt und eine starke reaktionäre Ader hat.
Der Autor Glenn Kenny vermutet sogar, dass Bangs irgendwann bei "Fox News" gelandet wäre, so wichtig war es dem betonten Einzelgänger, irgendwo dazuzugehören. Dazu kommt es aber nicht. Bangs stirbt im Alter von 33 Jahren an einer versehentlichen Überdosis Hustensaft. Auf dem Plattenteller läuft gerade "Dare" von "The Human League".

Sex Pistols: Emanzipation trotz Sexismus

Auch die Musikkritikerin Ellen Willis setzt in den 70er-Jahren große Hoffnungen auf die emanzipatorischen Möglichkeiten von Rock. Die Journalistin und Aktivistin war zusammen mit Shulamith Firestone eine der Gründerinnen der "Redstockings" und schreibt für "The New Yorker" Ende der 1960er- und Anfang der 1970er-Jahre Musikkritiken.
Sie erklärt der eher bourgeoisen Leserschaft die neue Rockkultur, und zwar aus explizit feministischer Position und mit Glauben an die sexuelle Revolution:
"Ich wurde konservativ erzogen. Sex war in meiner Jugend mit enormen Konflikten belastet. Diese Doppelmoral hat mich wütend gemacht; es hat lange gedauert, bis mir wirklich klar war, dass ich Sex haben und auch genießen darf."
Rockmusik ist zusammen mit feministischer Theorie eine ihrer Befreiungen. Sie thematisiert den Sexismus und die männliche Fixierung der Rockszene. Gleichzeitig ist sie kritische Liebhaberin von Bands wie "Creedence Clearwater Revival" und vor allem von "Janis Joplin".
Ellen Willis' Ästhetik des Widerstandes ist durch Lust und Freiheit geprägt. Sie ist sich der Widersprüche dieser Konstellation bewusst. 1979 schreibt sie über ihr Verhältnis zum Song "Bodies" von den "Sex Pistols", den sie wegen seiner Antiabtreibungsbotschaft und des Körperekels eigentlich ablehnen müsste. Und doch:
"Der Ekel des Songs war so extrem, dass ich zugeben musste, dass ich dieses Gefühl auch kannte", schreibt sie. Und weiter: "Anders als Johnny Rotten wusste ich aber, dass der Ekel das Problem ist, nicht der Körper. Und das war das Paradoxe: Musik, die aggressiv und offen aussprach, was eine Person wollte, liebte, hasste – guter Rock ’n’ Roll eben – brachte mich dazu, das Gleiche zu tun. Selbst wenn die Aussage antiweiblich, antisexuell, antihuman ist: Die Musik selbst bestärkt mich in meinem Freiheitskampf."
Bis zu ihrem Tod 2006 schreibt Ellen Willis nach diesem Essay fast nur noch politische Kommentare und soziokulturelle Analysen. An einem Punkt berühren sich die lustgeprägte Ellen Willis und der von Schmerz getriebene Lester Bangs: "The Velvet Underground" halten beide für einen Höhepunkt der Musik. Weil die Band fragt, wie Menschen miteinander umgehen sollen. Auch das kann Popmusik leisten.
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