Musik aus Konzentrationslagern

Ein einzigartiges Archiv gegen das Vergessen

09:36 Minuten
Das Lagerorchester des KZ Lemberg-Janowska spielt in kreisrunder Formation.
Die meisten Konzentrationslager der Nationalsozialisten hatten ihr eigenes Orchester. Dieses Foto zeigt das Lagerorchester von Lemberg-Janowska. © Picture Alliance / RIA Nowosti
Von Lisa Weiß · 08.09.2020
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Sie gab Hoffnung und Kraft zum Überleben: Musik, die in Konzentrationslagern und Straflagern gemacht wurde. Francesco Lotoro will diese Kunst im süditalienischen Barletta vor dem Vergessen bewahren.
"Das hier sind Kabarettstücke, die in den verschiedenen Lagern entstanden sind. In diesem Fall in Schwarzenborn." Komponist und Musikwissenschaftler Francesco Lotoro legt die Notenblätter weg und wühlt sich weiter durch Manuskripte.
In Lotoros Wohnung im süditalienischen Barletta stapeln sich Bücher, handschriftliche Notizen und Festplatten mit Musik. Um die 10.000 Partituren hat er mittlerweile in seinem Privatarchiv. Alles Musik, die in Lagern entstanden ist. Vieles stammt aus der Zeit des Nationalsozialismus, anderes aus Gulags, also Straf- und Arbeitslagern in der Sowjetunion.

Musik zwischen Leben und Tod

Es sei ein großer Fehler gewesen, die Sammlung nicht sofort zu katalogisieren, sagt Lotoro. Selbst er habe manchmal Schwierigkeiten, etwas zu finden. Aber die Aufnahme vom Radioauftritt des Duos Johnny and Jones hat er gleich parat.
Porträt von Francesco Lotoro.
Der Komponist und Musikwissenschaftler Francesco Lotoro sammelt Bücher, handschriftliche Notizen und Festplatten mit Musik aus den Konzentrationslagern der Nationalsozialisten.© Picture Alliance / ZUMA Press / Pacific Press / Andrea Bracaglia
Die beiden jüdischen Musiker, die hier im Amsterdamer Radio auftreten, sind zu dieser Zeit schon interniert, müssen nach der Tonaufnahme zurück ins Lager, um weiter Zwangsarbeit zu leisten. In den 30er-Jahren waren sie Stars in den Niederlanden. Kurz vor Kriegsende wurden sie im Vernichtungslager Bergen-Belsen ermordet.

Phänomen Lagerorchester

So wie ihnen ist es vielen der Musiker ergangen, deren Werke Lotoro sammelt und an deren Schicksal er erinnern will. Aber oft genug habe die Musik auch Hoffnung und Kraft zum Überleben gegeben, sagt Lotoro.
So gut wie jedes Lager hatte sein eigenes Orchester. Diese Musiker wurden teilweise besser behandelt als die anderen Häftlinge. Immer wieder habe Musik für ein, zwei Stunden die Unterschiede zwischen Aufsehern und KZ-Häftlingen verschwinden lassen.
"Es war nicht selten", sagt Lotoro, "dass sich auch in Birkenau junge Offiziere, die vor dem Kriegsausbruch Musiker waren, während der Proben neben die jüdischen Musiker des Männerorchesters Birkenau setzten und gemeinsam mit ihnen spielten."

Lagermusik als Erbe der Menschheit

Lotoro hat sein Leben der Lagermusik gewidmet: Er und seine Frau hätten entschieden, keine Kinder zu bekommen, um ihre ganze Kraft der Recherche zu widmen, um dieses Erbe der Menschheitsgeschichte vor dem Vergessen zu bewahren, erzählt er.
Angefangen hat alles 1990 bei einem Besuch im Lager Theresienstadt. Seitdem macht er sich in mühevoller Detektivarbeit überall auf der Welt auf die Suche nach Partituren, nach Fragmenten und Hinweisen. Anfangs waren noch mehr Zeitzeugen am Leben, dafür fehlte aber das Internet als Recherchemittel. Heute ist es genau umgekehrt.
Selbst wenn er ein Manuskript findet, ist seine Arbeit noch lange nicht zu Ende, sagt er:
"Man kann nicht ein Werk von der Kopie des Manuskripts oder vom Manuskript selbst runterspielen. Das Manuskript ist möglicherweise ungenau. Je nachdem, wo es geschrieben und komponiert wurde, kann es Lücken, Ungenauigkeit aufweisen, vielleicht fehlen ganze Teile. Man muss es kritisch bearbeiten, das kann viele Jahre dauern."

Von der Destillerie zum Museum

Lotoro, der Maestro, wie ihn alle hier in Barletta nennen, hat einen Traum: all diese Manuskripte und Partituren der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Ein Archiv zu gründen, ein Museum.
Einen Ort hat er schon gefunden, erzählt er und führt von seinem Haus zu einem halb verfallenen Gebäude ein paar Straßen weiter. Eine alte Destillerie. Das Gelände stellt ihm die Stadt Barletta zur Verfügung.
Das riesige, überwucherte Areal erinnert stellenweise an einen Dschungel. In den Gemäuern liegt Müll, Obdachlose schlafen hier. Doch Lotoro hat klare Vorstellungen, was hier entstehen soll, seine Begeisterung wirkt ansteckend:
"Hier wird die Verwaltung der ganzen Struktur sitzen, hier werden zehn Studiersäle sein. Eine große Aula, das Restaurant und das Café."

Finanzierungsprobleme

Auch Musikinstrumente will er ausstellen, gebaut in Konzentrationslagern aus Autoteilen und Kaninchenfellen. Doch davor muss er noch Geld auftreiben. Das sei gar nicht so einfach, sagt Lotoro.
Viele Holocaust-Opfer-Organisationen hätten ihm schon abgesagt, vielleicht auch weil er alle Musik sammelt, die in Lagern entstanden ist. Also nicht nur die der Opfer, sondern auch die der Täter.
Einige Millionen Euro für den Umbau hat er schon zusammen, doch das ist lange nicht genug. Besonders für die wissenschaftliche Arbeit fehle noch das Geld, sagt er:
"Um das Material zu beschaffen, muss man lange, kostspielige Reisen unternehmen. Manchmal kostet das Material auch etwas. Vor der Pandemie habe ich eine lange Reise nach Amerika machen müssen, um eine Violine und Manuskripte zu beschaffen und Personen zu treffen, die möglicherweise bei der Finanzierung der Reisen helfen wollten. Zwischen New York, der Bay Area und Miami hin- und herreisend habe ich 10.000 Euro ausgegeben."
Lotoro hat sich verschuldet für sein Herzensprojekt. Aber er gibt nicht auf. Damit Stücke wie "Im Walde von Sachsenhausen", von einem anonymen Komponisten im KZ Sachsenhausen erschaffen, nicht in Vergessenheit geraten.
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