Musik als Krankenakte
In ihrer Chopin-Biografie geht Eva Gesine Baur einen ausgetretenen Werk: Sie verschränkt Leben und Werk Chopins direktkausal. Dadurch erscheint die Musik immer nur als ein Spiegel der Gemütsverfassung ihres Schöpfers, Chopins Werk zum Ausdruck körperlicher oder seelischer Krisen.
Längst ist die klassische Musik eine Art Esperanto geworden: eine Weltsprache. Das heißt nicht, dass jeder Mensch, von der Kapsonne bis zum Nordlicht und von Caracas bis Shanghai all das, was Bach, Brahms, Beethoven und Kollegen so an Symphonien, Sonaten und Quartetten komponiert haben, wirklich verstehen muss. Aber gespielt, gehört, geliebt wird diese Musik rund um den Globus. Zeitlos erscheint sie uns heute, grenzenlos. Und hat sich dabei denkbar weit entfernt von den konkreten Umständen, unter denen sie einst entstanden ist.
Nur bei einem Komponisten hat das nie so gut funktioniert. Ihm haftet immer noch etwas Lokales an, etwas Privates, Persönliches, um nicht zu sagen Sentimentales: Frédéric Chopin.
„Die dritte Mazurka in cis-moll, die in diesem Sommer auf Nohant entsteht, atmet eine große Sehnsucht. Es gibt keine bessere Antriebskraft für Chopins Genie als dieses Gefühl. Es enthält Wünsche, die unerfüllt sind, Fantasien, die unverwirklicht sind, ein Bedürfnis nach Nähe, das ungestillt, ein Fernweh, das unbefriedigt bleibt.“
So sieht das Eva Gesine Baur in ihrem Buch „Chopin oder Die Sehnsucht, eine Biografie“. Es kommt eher selten vor auf den 564 Seiten dieser als breites historisches Panorama angelegten, mit vielen Zeitzeugenberichten zitatweise angereicherten Lebensbeschreibung, dass die Autorin so direkt von der Musik Chopins spricht (obgleich doch andererseits das Incipit jedes Kapitel in diesem Buch hübsch mit Notenlinien geschmückt ist, auch die Seitenzahlen auf Notenlinien ruhen und überall dekorative G- oder auch Bass-Schlüssel durchs Layout geistern). Doch wenn Eva Gesine Baur konkret ein Musikstück von Frédéric Chopins beschreibt, dann geschieht das immer etwa so wie in dem eben zitierten Satz: in blumiger Poesiealbensprache.
Die Musik erscheint als ein Spiegel der Gemütsverfassung ihres Schöpfers. Das Werk wird zum Mittel der Beglaubigung der Biografie. Diese direktkausale Verschränkung von Werk und Leben ist ein recht hölzerner und ausgedienter Interpretationsweg, er führt dazu, dass die Autorin, obgleich sie genau das wohl vermeiden möchte, immer wieder in den Sog alter Klischees gerät. Insofern, als Musik nur persönliche Befindlichkeit transportiert und der kurze Lebensweg Chopins bekanntlich immer wieder von Krankheit und Konflikten gesäumt war, wird sein Werk zum Ausdruck körperlicher und/oder seelischer Krisen: Musik als Krankenakte, pathologische Musik.
„Verrät das, was Chopin hier vollendet, etwas von diesem seelischen Wetterwechsel? Die erste der drei Mazurken, die als op.56 erscheinen, beginnt zwar etwas träge und verhalten, entfaltet dann aber ein farbiges Leben. Die zweite ist, bei Chopin selten, unkompliziert und gut gelaunt; die dritte ergreift mit ihrer Melancholie, aus der sie sich aufschwingt, um dann in Verzweiflung zu münden. Ihr Ende aber ist nicht düster, da bemüht sie sich um ein Lächeln.“
Als ob es so einfach wäre! Als ob jeder Autor, Maler, Sänger nur davon sänge, malte, dichtete, was ihm da eben durch die Rübe rauscht oder gerade über den Weg läuft! Musikbeschreibungen wie diese sind purer Kitsch. Sie sagen nichts aus über das Stück, noch weniger verraten sie etwas über seinen Autor. Und dies ausgerechnet bei einem Komponisten wie Chopin, der bekanntlich nur absolute Musik schrieb und kein einziges Stück Programm-Musik – und der sich, sehr zum Ärger seines Freundes und Kollegen Franz Liszt, nie auch nur ein Wort über den Prozess des Komponierens hatte entlocken lassen.
Die wenigen erhaltenen Skizzen zeigen, dass Chopin alle Versuche, die er verwarf, so gründlich geschwärzt hat, dass ihm niemand ihm in die Karten schauen konnte. Ein Eigenbrötler, ein verschlossenes Buch. Ein scheuer Mensch, voller Skrupel und Selbstzweifel.
Sicher weiß auch Eva Gesine Baur darum, sie ist ja Historikerin. Sie kennt die jüngsten Ergebnisse der polnischen und der französischen Musikforschung, sie kennt alle Chopin-Anekdoten, alle Chopin-Filme und natürlich auch die famose Chopinbiografie von Tadeusz A.Zielinski, die vor zwei Jahren bei Schott als Taschenbuch herauskam.
Etwas Neues hat sie uns nicht zu erzählen. Aber sie erzählt es in einer neuen, besonderen Art. Schließlich ist Eva Gesine Baur, unter dem Pseudonym Lea Singer, nebenbei höchst erfolgreich als Verfasserin fiktiver historischer Romane. Diesmal, das zeigt schon der Titel ihres Chopin-Buches an, hat sie in einer Art Doppelstrategie versucht, das Fiktive und das Verbürgte so dicht wie möglich zusammenzurücken. Immer wieder verschwimmt die quellengestützte Biografie ins erzählerisch Roman- oder Reportagehafte.
Durchgehend ist das Buch im Präsens verfasst, mit einer gewissen Atemlosigkeit, als fände das alles gerade jetzt statt, in diesem Augenblick. Und Eva Gesine Baur kriecht in die Köpfe derer, die sie beschreibt oder zitiert, hinein, um, quasi telepsychologisch, zu ergründen, was sie sich wohl eventuell gedacht haben könnten. Manchmal sind dann mehr Fragezeichen auf einer Seite als Punkte, als gut tut:
„Lügt er bewusst, oder ist ihm sein Äußeres schon als Kind so wichtig, dass er meint, das zähle auch beim Publikum mehr als alles andere? Lernt er bei solchen Auftritten, die Scheu zu überwinden oder lernt er nur, sie zu verbergen? Was geht in einem Kind vor, das allein am Klavier sitzt in einem fast leeren Saal, der nichts erzählt? Hat sich die letzte Englandreise in der Erinnerung verklärt? Sieht er wie viele Musiker auf dem Kontingent keine Chance, ein Publikum zu finden?“
Fragen über Fragen. Das waren einige aus dem ersten und dem vorletzten Kapitel der neuen Chopin-Biografie von Eva Gesine Baur. Wüßten wir die Antworten, wären wir nicht klüger als zuvor.
Dieses Buch möchte das Leben Chopins und seine Musik so dicht wie nur möglich an uns Leser und Hörer heranrücken und rückt doch wieder nur die alten Vorurteile über Chopin ins Licht: Ein schwacher, scheuer, weltfremder, aber vornehmer Mensch schreibt scheue, vornehme, traurige, weltfremde Musik. Nun gut. Immerhin: George Sand, die resolute Dichterin und Freundin Chopins, die kommt in diesem Buch etwas besser weg als sonst.
Eva Gesine Baur: Chopin oder Die Sehnsucht. Eine Biografie
Verlag C.H. Beck 2009
564 Seiten Euro 24,90
Nur bei einem Komponisten hat das nie so gut funktioniert. Ihm haftet immer noch etwas Lokales an, etwas Privates, Persönliches, um nicht zu sagen Sentimentales: Frédéric Chopin.
„Die dritte Mazurka in cis-moll, die in diesem Sommer auf Nohant entsteht, atmet eine große Sehnsucht. Es gibt keine bessere Antriebskraft für Chopins Genie als dieses Gefühl. Es enthält Wünsche, die unerfüllt sind, Fantasien, die unverwirklicht sind, ein Bedürfnis nach Nähe, das ungestillt, ein Fernweh, das unbefriedigt bleibt.“
So sieht das Eva Gesine Baur in ihrem Buch „Chopin oder Die Sehnsucht, eine Biografie“. Es kommt eher selten vor auf den 564 Seiten dieser als breites historisches Panorama angelegten, mit vielen Zeitzeugenberichten zitatweise angereicherten Lebensbeschreibung, dass die Autorin so direkt von der Musik Chopins spricht (obgleich doch andererseits das Incipit jedes Kapitel in diesem Buch hübsch mit Notenlinien geschmückt ist, auch die Seitenzahlen auf Notenlinien ruhen und überall dekorative G- oder auch Bass-Schlüssel durchs Layout geistern). Doch wenn Eva Gesine Baur konkret ein Musikstück von Frédéric Chopins beschreibt, dann geschieht das immer etwa so wie in dem eben zitierten Satz: in blumiger Poesiealbensprache.
Die Musik erscheint als ein Spiegel der Gemütsverfassung ihres Schöpfers. Das Werk wird zum Mittel der Beglaubigung der Biografie. Diese direktkausale Verschränkung von Werk und Leben ist ein recht hölzerner und ausgedienter Interpretationsweg, er führt dazu, dass die Autorin, obgleich sie genau das wohl vermeiden möchte, immer wieder in den Sog alter Klischees gerät. Insofern, als Musik nur persönliche Befindlichkeit transportiert und der kurze Lebensweg Chopins bekanntlich immer wieder von Krankheit und Konflikten gesäumt war, wird sein Werk zum Ausdruck körperlicher und/oder seelischer Krisen: Musik als Krankenakte, pathologische Musik.
„Verrät das, was Chopin hier vollendet, etwas von diesem seelischen Wetterwechsel? Die erste der drei Mazurken, die als op.56 erscheinen, beginnt zwar etwas träge und verhalten, entfaltet dann aber ein farbiges Leben. Die zweite ist, bei Chopin selten, unkompliziert und gut gelaunt; die dritte ergreift mit ihrer Melancholie, aus der sie sich aufschwingt, um dann in Verzweiflung zu münden. Ihr Ende aber ist nicht düster, da bemüht sie sich um ein Lächeln.“
Als ob es so einfach wäre! Als ob jeder Autor, Maler, Sänger nur davon sänge, malte, dichtete, was ihm da eben durch die Rübe rauscht oder gerade über den Weg läuft! Musikbeschreibungen wie diese sind purer Kitsch. Sie sagen nichts aus über das Stück, noch weniger verraten sie etwas über seinen Autor. Und dies ausgerechnet bei einem Komponisten wie Chopin, der bekanntlich nur absolute Musik schrieb und kein einziges Stück Programm-Musik – und der sich, sehr zum Ärger seines Freundes und Kollegen Franz Liszt, nie auch nur ein Wort über den Prozess des Komponierens hatte entlocken lassen.
Die wenigen erhaltenen Skizzen zeigen, dass Chopin alle Versuche, die er verwarf, so gründlich geschwärzt hat, dass ihm niemand ihm in die Karten schauen konnte. Ein Eigenbrötler, ein verschlossenes Buch. Ein scheuer Mensch, voller Skrupel und Selbstzweifel.
Sicher weiß auch Eva Gesine Baur darum, sie ist ja Historikerin. Sie kennt die jüngsten Ergebnisse der polnischen und der französischen Musikforschung, sie kennt alle Chopin-Anekdoten, alle Chopin-Filme und natürlich auch die famose Chopinbiografie von Tadeusz A.Zielinski, die vor zwei Jahren bei Schott als Taschenbuch herauskam.
Etwas Neues hat sie uns nicht zu erzählen. Aber sie erzählt es in einer neuen, besonderen Art. Schließlich ist Eva Gesine Baur, unter dem Pseudonym Lea Singer, nebenbei höchst erfolgreich als Verfasserin fiktiver historischer Romane. Diesmal, das zeigt schon der Titel ihres Chopin-Buches an, hat sie in einer Art Doppelstrategie versucht, das Fiktive und das Verbürgte so dicht wie möglich zusammenzurücken. Immer wieder verschwimmt die quellengestützte Biografie ins erzählerisch Roman- oder Reportagehafte.
Durchgehend ist das Buch im Präsens verfasst, mit einer gewissen Atemlosigkeit, als fände das alles gerade jetzt statt, in diesem Augenblick. Und Eva Gesine Baur kriecht in die Köpfe derer, die sie beschreibt oder zitiert, hinein, um, quasi telepsychologisch, zu ergründen, was sie sich wohl eventuell gedacht haben könnten. Manchmal sind dann mehr Fragezeichen auf einer Seite als Punkte, als gut tut:
„Lügt er bewusst, oder ist ihm sein Äußeres schon als Kind so wichtig, dass er meint, das zähle auch beim Publikum mehr als alles andere? Lernt er bei solchen Auftritten, die Scheu zu überwinden oder lernt er nur, sie zu verbergen? Was geht in einem Kind vor, das allein am Klavier sitzt in einem fast leeren Saal, der nichts erzählt? Hat sich die letzte Englandreise in der Erinnerung verklärt? Sieht er wie viele Musiker auf dem Kontingent keine Chance, ein Publikum zu finden?“
Fragen über Fragen. Das waren einige aus dem ersten und dem vorletzten Kapitel der neuen Chopin-Biografie von Eva Gesine Baur. Wüßten wir die Antworten, wären wir nicht klüger als zuvor.
Dieses Buch möchte das Leben Chopins und seine Musik so dicht wie nur möglich an uns Leser und Hörer heranrücken und rückt doch wieder nur die alten Vorurteile über Chopin ins Licht: Ein schwacher, scheuer, weltfremder, aber vornehmer Mensch schreibt scheue, vornehme, traurige, weltfremde Musik. Nun gut. Immerhin: George Sand, die resolute Dichterin und Freundin Chopins, die kommt in diesem Buch etwas besser weg als sonst.
Eva Gesine Baur: Chopin oder Die Sehnsucht. Eine Biografie
Verlag C.H. Beck 2009
564 Seiten Euro 24,90

Eva Gesine Baur: „Chopin oder die Sehnsucht“© Verlag C.H.Beck