Dirigent Waleri Gergijew

Das unerträgliche Schweigen der Klassik-Stars

05:21 Minuten
Der russische Präsident Wladimir Putin und der Dirigent Waleri Gergijew stehen nebeneinander. Putin auf der linken Seite, Gergijew auf der rechten. Sie tragen beide dunkelblaue Anzüge.
Guter Kontakte in die Politik: Aus der Freundschaft mit Wladimir Putin macht der russische Dirigent Waleri Gergijew keinen Hehl, nun muss er die Münchner Philharmoniker verlassen. © Imago / ITAR-TASS / Mikhail Klimentyev
Kommentar von Rainer Pöllmann · 01.03.2022
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Dirigent Waleri Gergijew ist wegen seiner fehlenden Stellungnahme zum russischen Angriff auf die Ukraine seinen Job als Chef der Münchner Philharmoniker los. Und auch die Sopranistin Anna Netrebko steht in der Kritik. Ein Umdenken ist notwendig.
Man stelle sich vor: Der weltweit erfolgreiche Dirigent Waleri Gergijew, mächtiger Intendant und Freund Wladimir Putins, nutzt seinen Ruhm, sein Renommee, seinen Einfluss und verurteilt öffentlich den Angriffskrieg Russlands.
Oder: Die weltweit gefeierte Sopranistin Anna Netrebko, die ihren 50. Geburtstag im Kreml feierte, sagt nicht all ihre Konzerte ab, weil es „nicht die richtige Zeit“ für sie sei zu musizieren, sondern sie tritt auf, mit einem passenden Programm und fordert den Abzug der russischen Truppen aus der Ukraine.

Das verkommene System der "Weltstars"

Beide wohl wissend, dass sie damit in Russland unter den gegenwärtigen Verhältnissen zur Persona non grata werden; aber ihren ganzen Ruhm nutzend für einen Dienst an ihrem Volk und dem ukrainischen.
Niemand hat wirklich erwartet, dass sich der einflussreichste (und vielleicht auch reichste) russische Dirigent gegen seine Staatsprivilegien und für einen Appell an die Menschlichkeit entscheiden könnte. Auch die Rückzugsstrategie von Netrebko überrascht niemanden.
Das zeigt vielleicht am deutlichsten, wie verkommen das System der klassischen „Weltstars“ ist. In dem auch jetzt noch Unverbesserliche auf die weltumspannende Friedenswirkung von Musik verweisen.

Spende an die Oper in Donezk

Jeder hat wissen können, wes Geistes Kind Gergijew ist. Netrebko spendete 2014 an das Opernhaus im besetzten Donezk und posierte mit der Flagge der Separatisten.
Bis vor ein paar Tagen hatte die Musikwelt – oder jedenfalls große Teile von ihr – damit kein Problem. Weil sie bereiten uns ja so schöne Konzerterlebnisse. Weil sie bringen ja so viel Umsatz und Gewinn, internationale Kontakte und Einladungen in alle Welt. Eine Win-Win-Win-Win-Situation für alle Beteiligten.

Bigotte Gleichgültigkeit

Wenn jetzt von Bigotterie die Rede ist und vom Furor der Tugendhaften: Bigott sind nicht die jetzigen Fragen. Die sind überfällig. Fragwürdig ist die Gleichgültigkeit in den vergangenen Jahren.
Vor zwei, drei Jahren hat MeToo auch und gerade die klassische Musikwelt verändert. Dass es einen Krieg braucht, um auch im Geschäftsgebaren der klassischen Musik ein Umdenken zu erzwingen, ist bitter und ein Armutszeugnis. Für alle. Für uns alle.

Entscheidung für das Leben

Nun ist eine solche Stellungnahme, wie sie von Gergijew und anderen gefordert wird, keine Bagatelle, sondern eine Entscheidung, die das ganze weitere Leben bestimmen kann. Immerhin verurteilte heute Netrebko auf Instagram den „sinnlosen Angriffskrieg“ und fordert Russland auf, diesen Krieg umgehend zu beenden. Der Name des Verantwortlichen fällt nicht.
„Putins Gunst für die Kunst war und ist nachhaltige Erpressung“, schreibt heute richtigerweise die FAZ, die vor drei Tagen noch beklagte, Gergijew werde „genötigt“. Nicht von Putin, sondern vom Münchner Oberbürgermeister. Wer aber jahrzehntelang in diesem System der Erpressung geschäftlich höchst erfolgreicher Nutznießer war, sollte sich jetzt nicht beschweren.

Aufschrei russischer Künstler

Hunderte russische Künstler haben sich gegen Putin gewandt. Vladimir Jurowski, Kirill Petrenko, Sergej Newski, Alena Baeva, Elena Rykova und andere. Viel weniger abgesichert und damit gefährdet.
Sie haben nicht „ihr Vaterland beschimpft“ – noch so ein Propagandapopanz, den Anna Netrebko noch gestern hochhielt; wohl aber haben sie den benannt, der es zur Geisel genommen hat. Sie haben nicht mithilfe ihrer Kommunikationsberater nach der harmlosen Formulierung gesucht, sondern aus ihrer Empörung kein Geheimnis gemacht. Sie alle gehen erhebliche persönliche Risiken ein, nicht nur geschäftliche.
Ihnen allen gebührt unsere Hochachtung. Global operierenden Musikoligarchen, deren Geschäftsmodell empfindliche Einbußen erleidet? Eher nicht.
Aber keine Angst, Geschäftsmodelle lassen sich anpassen. Wir freuen uns jedenfalls schon auf die nächste Aufführung von Beethovens Neunter unter Gergijew: „Alle Menschen werden Brüder.“ In der Loge: Wladimir Putin.

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