Mülltaucher sind keine Müllschlucker

Von Udo Pollmer |
Eine neue Form der Ernährung findet in der Jugendszene immer mehr Nachahmer. Sie gehen ihrer Neigung allerdings nur nachts nach, lediglich mit einer Taschenlampe ausgerüstet.
Im ersten Moment mag es ein wenig ekelig klingen, wenn man sich den Broterwerb vieler junger Menschen etwas näher besieht. Im schützenden Dunkel der Nacht wühlen sie in den Abfallcontainern von Lebensmittelbetrieben und Supermärkten - immer auf der Suche nach weggeworfenen aber noch genießbaren Lebensmitteln. Da finden dann die sogenannten Mülltaucher oder auch Containerer jede Menge angedätschtes Obst, Gemüse, das weg musste, weil eine neue Lieferung eingetroffen war, und natürlich verpackte Lebensmittel, deren MHD, deren Mindesthaltbarkeitsdatum abgelaufen ist. Die Ausbeute ist manchmal erklecklich, es gibt sogar Tauschbörsen, in denen Mülltaucher die manchmal recht einseitige Beute ihrer Streifzüge feilbieten.

Die allermeisten Mülltaucher haben diese Art der Nahrungssuche überhaupt nicht nötig. Aber für sie ist es nicht eine Frage des Geldes sondern der politischen Überzeugung. Und so gehen sie der Wegwerfgesellschaft in deren wohlgefüllten Mülltonnen auf den Grund. Es ist schlichtweg eine jugendliche Protestbewegung, eine Mischung aus ökologischen und gesellschaftskritischen Elementen. An erster Stelle steht natürlich der moralische Protest gegen das gedankenlose Wegwerfen von Lebensmitteln und auch gegen die Generationen vor ihnen, die diesen Überfluss möglich gemacht haben.

Vermutlich spielt auch der Nervenkitzel eine Rolle, denn Mülltauchen ist nun mal illegal – auch wenn das Risiko einer Verurteilung geringer ist als beim Schwarzfahren, einfach, weil Polizei und Gerichte meist Wichtigeres zu tun haben, als die Mitnahme weggeworfener und damit explizit wertloser Ware zu ahnden. Es entsteht ja niemandem ein Schaden. In der Szene ist es Ehrensache, bei den nächtlichen Ausflügen nichts zu beschädigen und keine Schweinerei zu hinterlassen. Sonst könnte noch der eine oder andere Marktleiter auf die Idee kommen, die Container mit Schlössern zu sichern.

Junge Menschen suchen eine Herausforderung, eine Bewährungsprobe. Wenn ihr Leben durch Warnschilder und Prävention vor den Gefahren dieser Welt reglementiert ist, wenn das Lagerfeuer am Baggersee nur noch mit feuerpolizeilicher Genehmigung angezündet werden darf, dann suchen sie sich ihre Freiheiten eben dort, wo sie noch Lücken im allumfassenden Kontrollnetz finden. Da hat natürlich die Nachtwanderung zu den Parkplätzen der Supermärkte etwas Prickelndes, weil sie stets Gefahr laufen, auf ihrem neuen Abenteuerspielplatz bei der Schatzsuche entdeckt zu werden, und sich Ärger mit prinzipientreuen Grufties oder Verwesis einzuhandeln.

Ich kann eine klammheimliche Genugtuung über dieses Treiben nicht verhehlen. Denn die jungen Leute lernen so den korrekten Umgang mit der Hygiene, - das ist das A und O, wenn man im Container nach Essbarem wühlt. Sie müssen ihren Ekel vor unansehnlichen oder gar unappetitlichen Speisen überwinden. Sie lernen wieder auf ihre Sinne zu achten, sie müssen die Ware probieren, um die Qualität zu prüfen. Und sie müssen wissen, wie man Produkte korrekt zubereitet, die nicht mehr ganz in Ordnung sind. Im Krisenfall, im Falle einer Katastrophe sind solche Kenntnisse für eine Gesellschaft überlebenswichtig.

Mülltauchen erfordert ein wenig Umsicht, Disziplin und auch Bescheidenheit, weil man das essen muss, was man gerade findet. Diese Idee ist doch allemal stilvoller und seriöser als andere populäre Mutproben wie S-Bahn-Surfen, Klauen im Kaufhaus oder Schmierereien an Hauswänden.

Und jetzt das Wichtigste: Mülltaucher essen im Gegensatz zu vielen ernährungsbewussten Zeitgenossen nicht jeden Mist – weil sie sich mit Lebensmitteln besser auskennen. Mahlzeit!
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