Moskauer Dokumentartheater "Teatr.dok"

Die Kehrseite von Putins "Siegervolk"

Frauenschuhe in einem Haus in Donezk nach dem Beschuss durch die ukrainische Armee.
Frauenschuhe in einem Haus in Donezk nach dem Beschuss durch die ukrainische Armee. © picture alliance / dpa / Irina Gerashchenko
Von Gesine Dornblüth · 11.11.2016
Das kleine Moskauer Dokumentartheater "Teatr.dok" hat schon mit vielen politischen Stücken von sich reden gemacht. Jetzt setzt sich die Bühne mit den gegenwärtigen Kriegen in der Ostukraine und in Syrien auseinander - in der russischen Öffentlichkeit passiert dies kaum.
Ein Moskauer Keller. In zwei Reihen stehen Stühle und Barhocker auf der Bühne. Zwei Schauspieler tragen aus einem Tagebuch aus dem ostukrainischen Lugansk vor. Ein Familienvater hat es dem Theater zugeschickt.
"Erster Juni. Der letzte Schultag meiner Tochter. Alle Eltern haben Angst, ihre Kinder abends raus zu lassen. Deshalb feiern wir im engsten Familienkreis.
Zweiter Juni. Die Stadt ist in Aufruhr. Das Gebäude der Gebietsverwaltung wurde bombardiert. Mitten in der Stadt wurden zufällige Passanten in Fleischstücke zerrissen. Abends im Fernsehen beschuldigen sie einander gegenseitig, geschossen zu haben."
Ein dritter Schauspieler türmt die Stühle zu Barrikaden auf, blendet mit Taschenlampen, stört im Hintergrund.
"Dritter Juli. Meine Tochter und ich sind bei einer Behörde. Am Eingang ein gerahmtes Foto ihres Lehrers. Er ist beim Beschuss umgekommen. Meine Tochter weint. Mir wird zum ersten Mal bewusst: In meiner Stadt besteht die Gefahr umzukommen."
"Der Krieg ist nah", heißt der Abend im Moskauer "Teatr.doc", aber im Moskauer Alltag scheint der Krieg im Donbass weit weg. Über die anhaltenden Schusswechsel und Toten wird in Russland nur noch wenig berichtet, die toten russischen Soldaten sind ein Staatsgeheimnis. Nikolaj Mulakow, einer der Schauspieler:
"Mich hat das Stück verändert. Meine Tante lebt in einem Dorf in der Nähe von Lugansk. Ich war dort oft als Kind. Ich hatte sie schon fast vergessen, aber nach der Premiere habe ich ihren Kontakt gesucht, und jetzt schreiben wir uns. Es ist wichtig, Verbindung zu halten."

Wenig Wissen über Syrien

Das zweite Thema des Abends, der Krieg in Syrien, interessiert die Russen noch weniger. In einer Umfrage des unabhängigen Lewada-Zentrums sagten 81 Prozent der Befragten, sie wüssten nichts oder wenig über die Entwicklungen in Syrien. Das Teatr.doc hat einen Text des britischen Autors Mark Ravenhill über Manipulation übersetzt.
"Ein Kind liegt auf dem Pflaster vor deinem Haus. Im Gesicht klare Anzeichen von Chemiewaffen. Atemnot. Krämpfe. Du musst deine Kamera benutzen und dokumentieren, dass dies Kind dort auf dem Pflaster liegt. Du musst das Foto des Kindes auf dem Pflaster verbreiten. Wenn du das Foto des Kindes auf dem Pflaster nicht verbreitest, wird es heißen, es gab das Kind nicht. Es gab keine Chemiewaffenangriffe, keine Chemiewaffen, keine Chemiewaffen in Syrien, das Kind verschwindet einfach. Das Foto des erstickten Kindes reicht nicht aus, um zu beweisen, dass Chemiewaffen eingesetzt wurden! Dieses Foto ist retuschiert, dieses Foto ist Propaganda! Dieses Foto ist ein Beweis, die rote Linie ist überschritten!"
Die 30 Plätze im Zuschauerraum sind ausverkauft, das Publikum anschließend nachdenklich-bedrückt. Eine junge Frau:
"Ich weiß, dass ich die Wahrheit nicht kenne. Das ist das Schlimmste. Ich bin weder für die einen noch für die anderen. Aber ich weiß, dass alle lügen."
Sie habe an diesem Abend eines gelernt:
"Dass ich Angst habe. Das war für mich eine Offenbarung."

Uniformierter im Publikum

Ängste einzugestehen, Schwäche zu zeigen – das ist in Russland unter Wladimir Putin nicht gefragt. Putin spricht von den Russen als "Siegervolk". Das Teatr.doc zeigt die Kehrseite: Wie Gewalt in das Leben der Menschen einzieht. Wie Menschen den Zeitpunkt verpassen, sich dagegen zu wehren. Wie Ermittler Menschen mit Gewalt zwingen, Unschuldige mit Falschaussagen zu belasten – wie im Fall des ukrainischen Filmregisseurs Oleg Senzow, denn auch der Prozess gegen ihn ist Thema an dem Abend.
Bei der Premiere von "Der Krieg ist nah" saßen Uniformierte im Publikum, machten Fotos. Ein bisschen Risiko gehöre dazu, meint der Schauspieler Konstantin Koschewnikow.
"Für mich ist das hier die Möglichkeit, zumindest in dieser Form Protest auszudrücken. Mit der Angst zu arbeiten. Die Welt wird ja wirklich immer komplizierter. Und wir müssen uns und den Zuschauern die Möglichkeit geben, darüber zu reden und das anzuschauen. Zumindest in diesem kleinen Keller."
Mehr zum Thema