Mörderische Mainregion

Auf den Spuren der Krimis von Ingrid Noll

Eine Deutschlandrundfahrt von Irene Binal · 15.03.2015
Mannheim, Darmstadt, Weinheim oder Heidelberg: Mitten in der hessischen Provinz hat Ingrid Noll ihre Kriminalromane angesiedelt, zwischen Spargelhöfen und Weinbergen. An diese Schauplätze begibt sich Irene Binal - in einer Deutschlandrundfahrt zwischen Fiktion und Wirklichkeit.
Wagner über Touristen: "Also das bringt schon auch Touristen, die eben auch auf Spuren von Ingrid Noll wandern, einfach dass man auch sehen will, wenn man nicht aus der Region ist, wie das ist."
Maria Zimmermann über Touristen: "Klar fragen die dann, spielt das hier oder wohnt sie hier oder wo wohnt sie denn und so weiter, es ist schon ein Thema, ja."
Die Rede ist von Krimiautorin Ingrid Noll, die immer in ein und derselben Region morden lässt. Ihre bitterbösen Krimis spielen in Heidelberg oder Schwetzingen, in Darmstadt oder in Mannheim ...
Ingrid Noll: "Weil hier mein Jagdrevier ist, weil ich hier jetzt seit vielen Jahren lebe, die Menschen kenne, die Landschaft kenne, die Städtchen kenne, ich habe sofort Bilder vor Augen ..."
Phantasie und Wirklichkeit, Gegensätze oder Gemeinsamkeiten – Eine Spurensuche mit Kennern der Region: Darmstadt in Hessen. Hier spielt Ingrid Nolls wohl berührendster Roman: "Kalt ist der Abendhauch", die Geschichte einer lebenslangen Liebe. Dass die Handlung in Darmstadt angesiedelt wurde, ist kein Zufall.
Noll: "Meine Mutter, geboren 1901, war Darmstädterin. Sie hatte dort eine sehr schöne Jugendzeit, es war die Zeit des Jugendstils auch, die Kinder nannte man nach den Kindern des Großherzogs, und meine Mutter wünschte sich irgendwann, als ich mein drittes Buch schrieb: lass es doch in Darmstadt spielen. Und da ich dann auch ihr zuliebe eine alte Frau nahm, die sich erinnert, konnte meine Mutter mir Tipps geben, also ganz viele Kleinigkeiten, die sich auf die Vergangenheit beziehen, die stammen von meiner Mutter, und ich habe ihr dieses Buch dann auch gewidmet."
Das frühere Darmstadt kennt Günter Körner gut, sehr gut sogar. Sein Hobby, sagt er, sei Darmstadt, und tatsächlich weiß er viel über die Geschichte der Stadt zu erzählen, schnurrt die Jahreszahlen nur so herunter.
Körner: "Darmstadt war Grafschaft der Katzenellenbogen, so von 1100, 1200 bis 1567, dann wurde es Landgrafschaft, 1567 bis 1806, dann wurde es Großherzogtum bis 1919 und dann Volksstaat Hessen."
Das Darmstadt der Jahrhundertwende, das Ingrid Nolls Mutter kannte, ist das Darmstadt der Großherzöge mit ihren engen Banden zur russischen Zarenfamilie: Daran erinnert sich in Nolls Roman ihre Protagonistin Charlotte:
Zitat: "Meine Eltern hatten ihren ersten Sohn nach dem allseits beliebten Großherzog von Hessen Ernst Ludwig benannt. Anlässlich der Verlobung des Großherzogs sang mein Vater, als junger Mann Mitglied des Darmstädter Männergesangsvereins, gemeinsam mit 500 Sängern aus 28 Vereinen „Es steht ein Baum im Odenwald". Von diesem Ereignis erzählte er mit Stolz. Im selben Jahr heirateten meine Eltern und fühlten sich den Hoheiten stets auf besondere Weise verbunden."
Dieses Darmstadt wird vor allem auf der berühmten Mathildenhöhe lebendig. Auf diesem Hügel konnte sich eine Künstlergruppe mit großherzoglicher Erlaubnis so richtig austoben.
1899 hat der Großherzog sieben Künstler versammelt, die durften dann bauen und gestalten im Rahmen der neuen, modernen Lebensreform Jugendstil. Und der Kopf dieser ganzen Geschichte war Joseph Maria Olbrich, ein Mitstreiter von dem Jugendstilpapst Wagner aus Wien, der wurde hierher berufen, und der begann dann innerhalb von drei Jahren, diese Mathildenhöhe zu gestalten.
Auf der Mathildenhöhe gehen die Darmstädter auch heute gern spazieren, sowohl im Roman von Ingrid Noll als auch in der Realität, erzählt Günter Körner. Im Platanenhain spielen mehrere Männer Boule, unter ihnen ein echter Olympia-Medaillengewinner: Der ehemalige Schwimmer Hans Joachim Klein gewann bei den Spielen in Tokio 1964 dreimal Silber und einmal Bronze. Heute wirft er statt zu schwimmen:
Boulespieler: "Alle 14 Tage spielen wir hier Boule, um elf Uhr, und anschließend entspannen wir uns." - "Er darf locker werfen!" - "Jetzt ist er motiviert" - "Oh, das wird jetzt ein Wurf!" - "Beiß dir net auf die Zung!" - "Du blöder Hund!" - "Der kommt, der kommt, jetzt mittendurch - ah! Das war gut!"
Rundgang auf der Mathildenhöhe ist fast eine Zeitreise
Ein Rundgang auf der Mathildenhöhe - fast wie eine Zeitreise. Da ist zum Beispiel der Hochzeitsturm aus dem Jahr 1908, ein Hochzeitsgeschenk der Darmstädter an den beliebten Großherzog Ernst Ludwig. Oder die zahlreichen Jugendstilhäuser, heute unter Denkmalschutz und vielfach in Privatbesitz:
"Wir sind dabei in Darmstadt, dass dieses Ensemble Unesco-Weltkulturerbe wird. Und da laufen die Anträge und da sind wir schon mal in der Liste aufgenommen, ja?"
Eine dieser Jugendstilvillen, das so genannte große Glückert-Haus, beherbergt die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung. Eine wichtige Institution für Hugo, den alten Protagonisten in Ingrid Nolls Roman, der nach Darmstadt kommt, um seine ebenso alte Freundin Charlotte zu besuchen. Beide verbindet nicht nur eine lebenslange, geheime Leidenschaft und ein makabres Geheimnis, sondern auch die Begeisterung für Literatur:
Zitat: "'Ich bin froh, wieder in Darmstadt zu weilen', sagt der Alte feierlich, 'hier befindet sich die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung, hier sind meine literarischen Wurzeln. Es sind kritische Geister, für die unsere Residenzstadt bekannt ist.'"
Und dann zählt er sie auf, die großen Geister Darmstadts: Johann Heinrich Merck, Georg Büchner, Kasimir Edschmid, Georg Hensel - und Ernst Elias Niebergall. Von dem stammt die Darmstädter Mundartposse "Der Datterich", die in Darmstadt bis heute Erfolge feiert, wie Günter Körner weiß:
"Das handelt von einem Zecher, der gern auf Kosten anderer sich durchtrinkt und wird hier durch die Darmstädter Spielgemeinschaft regelmäßig einmal im Jahr aufgeführt. Und in diesem Jahr haben wir ein besonderes Jahr, 1815 ist Ernst Elias Niebergall geboren, deshalb haben wir in diesem Jahr 200-jähriges Jubiläum mit besonderen Veranstaltungen in Bezug auf Niebergall und Datterich."
Ein entlassener, trunksüchtiger Finanzbeamter ist dieser Datterich, der mit seinen Wirtshauskumpanen im breitesten Darmstädter Dialekt redet. Mundarten sind auch für Ingrid Noll wichtig; oft und gern bringt sie die Mundart der jeweiligen Gegend in ihre Romane ein. Dialekte, sagt sie, transportieren eine Art Mutterwitz:
"Sie können auch was Deftiges vielleicht sagen, was man auf Hochdeutsch nicht so über die Lippen bringt, zum Beispiel die Schwaben sagen zu ihren Kindern liebevoll: du Scheißerle, das klingt ganz lieb, aber auf Hochdeutsch wäre es natürlich unmöglich. Ich kann natürlich Dialekte eigentlich kaum, also den hiesigen kann ich auch nicht so, dass ich da durchgehen würde bei einem Native Speaker, aber ich verstehe es schon und kann ein bisschen mitmischen."
In ihrem Roman "Kalt ist der Abendhauch" lässt sie die Darmstädter Mundart einfließen. Eine Kostprobe, gelesen von Günter Körner:
"Es dud mir leid, Spirwes, des Mielsche hett mer emol sein Schlissel geliehe, damit ich mer e Schärmsche hol, wenns pletzlich rechne deht. Nur dadefür sin mir kumme."
Günter Körner, der regelmäßig eine Mundartglosse im "Darmstädter Echo" schreibt, ist ein "Native Speaker" - und kennt noch sehr viel derbere Beispiele für das Darmstädter Idiom:
"Ich haach der aufs Aach und aufs andern Aach a, und wenn ich haach, dann haach ich aach... Ich schlage dir auf das Auge und auf das andere Auge auch, und wenn ich schlage, dann schlage ich auch zu. Wir können kein R sprechen. Da gibt es eine Episode, am Darmstädter Hauptbahnhof gibt es einen Fürstenbahnsteig. Und da hat der Darmstädter Bahnhofsvorsteher mit der roten Mütze und der Kelle immer die Kelle hoch und hat geschrien: 'Station Damstadt'. Und da hat der Großherzog gesagt: mein Lieber, ich will das R, Darmstadt, hören. Also der Zug fuhr ein und der war ganz nervös, der Bahnhofsvorsteher mit der roten Mütze, und dann hob er die Kelle und schrie: 'Startion Damstadt'. Also wir können kein R sprechen. Wir verschlucken alle Endungen. -en gibt es nicht. Wir sprechen alles im Perfekt, Imperfekt gibt es nicht. Die Vokale werden langgezogen, der Tag zum Beispiel, das ist der Daach. An dem Daach hab ich koa Zeit."
Und noch etwas können die Darmstädter gut: Spitznamen erfinden. "Die Käsglock" ist nur ein Beispiel dafür. Von ihr spricht der alte Hugo, der Lebemann und Literaturliebhaber in Ingrid Nolls Roman. Gemeint ist die Ludwigskirche, erklärt Günter Körner.
"Diese Kirche hat keinen Turm, sondern eine Kuppel, und deshalb wird sie von dem Darmstädtern liebevoll die Käsglock genannt. Und da gibt (es) eine Legende, weshalb hat die Kirche keinen Glockenturm und keine Glocken, und da hätte der Landgraf Ludwig X., spätere Ludewig I. Großherzog von Hessen und bei Rhein gesagt: na ja, eine Kirche sollen sie haben, aber bimmeln sollen sie nicht."
Nicht nur die Kirche, auch der Obelisk davor hat einen Scherznamen erhalten:
"Der Darmstädter Zahnstocher. Erinnert an die Großherzogin Alice, die mit dem 35. Lebensjahr schon verstorben ist und im Sozialbereich Darmstadts maßgebliche Impulse gab, nämlich das Alice-Hospital, der Alice-Frauenverein, das ist ein Jugendstildenkmal, Ludwig Habich, der ein Mitbegründer der Künstlerkolonie war, hat das geschaffen. Diesen Obelisk. Und die Darmstädter nannten ihn Zahnstocher."
Wenn der alte Hugo in Ingrid Nolls Roman mit seiner Charlotte über den Luisenplatz flaniert, ist er vom heutigen Gesicht der Stadt wenig begeistert:
Zitat: "'Scheußlich', sagt er zum Einkaufscenter, das seit zwanzig Jahren die Stelle des Alten Palais einnimmt, und "ein Wunder" zum Monument. Es ist in der Tat seltsam, dass unser gesamtes jetziges Panorama, auch der Marktplatz und mein Elternhaus, in Schutt und Asche lagen, aber das hohe Denkmal einsam überlebte."
Gemeint ist das Denkmal des Großherzogs Ludewig des Ersten, das die Darmstädter liebevoll "Langer Lui" nennen. Die Gebäude rundherum wurden in der Brandnacht im Jahr 1944 fast völlig zerstört, berichtet Günter Körner:
"Es war ein Feuersturm, man hat erst mit Sprengbomben die Häuser aufgerissen, dann mit Brandbomben einen Riesen-Feuersturm entfacht, dieser Feuersturm ist ein Sauerstoffkonsument, da sind viele Leute nicht nur durch Bomben, sondern auch weil kein Sauerstoff mehr da war, sind die erstickt."
Noll hat eine Schwäche für Heidelberg
Nicht nur Darmstadt wurde in Schutt und Asche gelegt; der Zweite Weltkrieg hat die gesamte Region betroffen. Lediglich eine Stadt blieb von den alliierten Bomben verschont: Heidelberg.
"... weil ein amerikanischer General dort auf der Universität sein Studium absolviert hat, und dann hat man Heidelberg verschont."
Einige von Ingrid Nolls Romanen spielen in Heidelberg, allerdings nicht unbedingt aus Notwendigkeit:
"Mehr oder weniger war das auch Zufall. Ich dachte hier, Heidelberg ist jetzt auch mal wieder dran".
Außerdem hat Ingrid Noll eine Schwäche für Heidelberg:
"Ein Sohn hat dort studiert und ich fand das für ihn sehr schön, dieses Studentenleben, man kennt sich. Unsere Tochter, die in Berlin studiert hat, sagte, man trifft doch nie auf der Straße zufällig Kommilitonen. Aber in Heidelberg, da geht man einmal lang, da trifft man schon dauernd Leute, die man kennt. Und das ist ja auch das Nette an kleinen Universitätsstädten, man ist sich so nah, das Studentenleben ist allgegenwärtig."
Magnus Bastian: "Allein dass man in dieser Altstadt ist und studiert und wenn ich jetzt gerade von den Musikwissenschaftlern spreche, ich würde mal behaupten, das Seminar sah vor 60, 70 Jahren auch schon genauso aus. Also die Bibliothek gerade, die Bibliothek ist einfach so, wie man sich eine Bibliothek vorstellt. Knarzende Holzfußböden, Bücherregale bis zur Decke ..."
Auch Hella Moormann, die Apothekerin aus dem gleichnamigen Roman, hat an der Heidelberger Uni studiert. Aus der Apotheke ihres Großvaters hat sie einige Fläschchen geerbt - und ihr Freund Levin ist von einer speziellen Tinktur besonders beeindruckt:
Zitat: "Selbstverständlich wählte er mein liebstes Fläschchen aus, das kleinste und feinste. Auf dem verblichenen Etikett war in violetter Tinte 'Poison' vermerkt. Levins Interesse war geweckt. Mit Kraft zog er den geschliffenen Stöpsel heraus und schüttete den Inhalt auf ein seidenes Sofakissen. Winzige Röhrchen mit dem Durchmesser eines dicken Nagels und einer Länge von zwei bis vier Zentimetern fielen heraus. Er sah mich neugierig an: 'Gift?'"
Dieses Gift wird in Nolls Roman - wie nicht anders zu erwarten - seine Verwendung finden. Aber wo gibt es noch eine Apotheke wie jene von Hellas Großvater, mit unzähligen Fläschchen, Töpfchen und Ampullen? Im Apothekenmuseum auf dem Heidelberger Schloss. Eine Bergbahn führt hinauf.
Eigentlich ist das Schloss nur mehr eine Ruine, es wurde im 17. Jahrhundert im Pfälzischen Erbfolgekrieg weitgehend zerstört und nie wieder aufgebaut. Gerade das aber macht es so interessant, erklärt Magnus Bastian:
"Ich glaube Heidelberg wäre nicht so berühmt, wenn das Schloss noch intakt wäre, das hat ja insbesondere die Romantiker eben so schwer beeindruckt, dieses Verfallende und dass ja viele Dichter eben von diesem morbiden Charme angezogen wurden, der sich natürlich insbesondere auf die Ruine auch gründet."
Seit 1957 ist das Apothekenmuseum in einigen Räumen des Heidelberger Schlosses untergebracht. Hier finden sich Arbeitsmaterialien, Rohstoffe und geheimnisvolle Gerätschaften wie etwa ein Dampfdestillierapparat. Fachwissenschaftlerin Claudia Sachße erläutert, wie man damit verschiedene Flüssigkeiten destillieren konnte:
Entweder Normalflüssigkeiten oder alkoholische Auszüge, aber eben vor allem im Arzneibereich, also man konnte mehrere Vorgänge gleichzeitig da drin durchführen. Der ist so ungefähr aus dem späten 19. Jahrhundert.
Romanfigur Hella Moormann wäre vor allem von den historischen Apothekeneinrichtungen entzückt. Von einer Biedermeieroffizin mit zahlreichen kleinen Schubladen etwa:
"Der große Unterschied ist hier, dass man eben diese einzelnen Regalfächer nicht mehr sehen kann, man sieht nicht die Gefäße, die drinstehen, was eigentlich die Vorschrift war, damit der Apotheker sich nicht vergreift, sondern er muss immer offen sehen, ist es genau das Gefäß, was ich brauche. Die mussten auch immer beschriftet sein, nach bestimmten Vorschriften, und der Apotheker hier hat sich was ganz Besonderes ausgedacht, damit die Gefäße lichtgeschützt und ungeziefergeschützt sind, und hat die Türchen extra noch beschriftet.
Und das hat auch 80 Jahre wunderbar gedient, das hat niemanden gestört, bis dann eben doch eine Apothekenaufsicht gesagt hat, das darf nicht, das muss raus; sein Nachfolger hat dann eben die Apotheke völlig neu eingerichtet und er war auch Gründer des Stadtmuseums in Ulm, und hat das dort ins Museum gegeben, und nachdem eine Ulmer Apotheke ausgebombt war im Zweiten Weltkrieg hat man das sozusagen als Noteinrichtung nochmal verwendet."
Hexenküche ganz nach Nolls Geschmack
Und eine Klagenfurter Apotheke aus dem 17. Jahrhundert sieht genau so aus wie man sich die Apotheke von Hellas Großvater vorstellt, findet Magnus Bastian:
"Diese Schränke als solche, mit den Ornamenten, den oben aufgesetzten, diese Üppigkeit und da drunter dann fein säuberlich der Größe nach angeordnete Töpfe und Tiegel und Gläser und vorgesetzt dann einfach diese Kommode eben mit vielen Schubladen, alle mit den lateinischen Beschriftungen, da kann man die Faszination verstehen, die da im Buch zum Ausdruck kommt."
Im Keller sind verschiedene Utensilien aus Apothekenlaboratorien versammelt - Destilliergeräte, Tubenfüllmaschinen, Tinkturenpressen... Magnus Bastian ist beeindruckt:
"Na, das ist doch großartig, ein steinerner Sockel, in den ein Kupfertopf eingelassen ist von 70, 80 Zentimeter Durchmesser und dann unten die Feuerstelle, da sieht man es irgendwie schon brodeln... so richtig Hexenküche ist das."
Eine Hexenküche ganz nach Hella Moormanns oder Ingrid Nolls Geschmack.
Aber es wird nicht nur gemischt, gerührt und geköchelt im Heidelberg der Schriftstellerin - es wird auch gekifft, nämlich im Roman "Ladylike". Dort rauchen drei alte Damen auf der Alten Brücke in Heidelberg einen Joint.
Zitat: "Zum Glück haben wir jetzt den Mittelpfeiler der Brücke erreicht; die Brüstung reicht uns bis zur Taille, und es gelingt uns nur durch gegenseitige Hilfe, unsere drei Hinterteile auf die breite Sandsteinmauer zu wuchten. Nun hocken wir hier wie matte Vögel und schauen zum Tor mit den beiden schlanken Türmen hinüber. Unter uns schwappt leise das Wasser an die Brückenbögen."
Auf der breiten Brüstung der Brücke lässt es sich tatsächlich gut sitzen, Ingrid Noll hat das per Internet überprüft:
"Ich wusste nicht mehr genau, könnte man auch in meinem Alter sich da überhaupt auf die Brüstung raufschwingen, muss ich jetzt da hinfahren und muss das ausprobieren, zum Gaudi der japanischen Touristen, also ich war etwas unsicher, und dann habe ich bei Google nachgeschaut, Heidelberg, Alte Brücke, Bilder. Und schon sah ich dann 20 Japanerinnen auf der Brüstung sitzen und musste nicht mehr eigens hinfahren."
So richtig alt ist die Alte Brücke gar nicht; etwas über 200 Jahre. Viele Kämpfe hat sie bereits gesehen, zuletzt sprengte die Wehrmacht 1945 zwei Pfeiler. Die Brücke hat auch das überstanden und dient heute als Treffpunkt für Liebespärchen. Die haben auf der Brückenmauer ihre Spuren hinterlassen, nämlich zahlreiche Liebesschlösser.
Magnus Bastian: "Du drückst mit diesem Schloss aus, dass diese beiden Menschen sich gefunden haben, zusammen sind, und dann schließt man das Schloss ab und schmeißt den Schlüssel ins Wasser."
In Ingrid Nolls Roman "Ladylike" fällt noch etwas anderes ins Wasser, nämlich die drei alten Damen.
Ein echter Ingrid-Noll-Roman eben: bösartig, respektlos und mit scharfem Blick für die Schwächen der Protagonisten. Die nämlich benehmen sich nicht immer ladylike und lassen auch schon mal einen Mann bespitzeln, für den sie sich erwärmt haben. Schauplatz: das Restaurant im Haus zum Ritter, immerhin das älteste Gebäude Heidelbergs:
"Ist soweit ich mich entsinne von 1592, und hat die ganzen Zerstörungen von Heidelberg, also im 30-jährigen Krieg und dann Ende des 17. Jahrhunderts durch die Franzosen, als einziges Haus überstanden, weil es eben aus Stein ist. Von einer sehr reichen Familie erbaut worden sein muss, die sich eben ein Steinhaus leisten konnten, während ringsherum alles mit Fachwerk oder einfach Holz gebaut war."
Eine rote Sandsteinfassade, fast überladen mit Zierrat und Ornamenten. Gerade zieht ein Karnevalsumzug vorbei, die Kurpfälzer Trabanten in roten Kostümen und mit langen, weißen Federn auf den Baretten.
Im Roman "Ladylike" geht Ewald, ein Freund der Protagonistinnen, ins Restaurant zum Ritter und wird von zwei Studenten beschattet, die die alten Damen angeheuert haben:
Zitat: "'Verfolgen jetzt das bewusste Objekt durch die Hauptstraße. Aber schon entert es das Hotel zum Ritter', rapportiert Ricarda. 'Zum Glück sind viele Leute unterwegs, er hat uns sicher nicht bemerkt.' Und wenn schon, sage ich, schließlich studieren Moritz und Ricarda in Heidelberg, in einer kleinen Stadt kann man sich rein zufällig über den Weg laufen. 'Er hat anscheinend einen Tisch reservieren lassen', berichtet Moritz, 'es ist für zwei Personen gedeckt. Sollen wir etwa auch dort essen? Ein Eckplatz scheint frei zu sein, aber preislich ist die Ritterstube nicht unsere Kragenweite.'"
Für Studenten ist das Restaurant tatsächlich ein bisschen teuer. Ein vornehmes Haus eben, man weiß, was man der guten Adresse schuldig ist:
"Möchten Sie zum Restaurant?" - "Sehr gern, ja" - "Dann gerade hier" - "So, dann lege ich mal kurz die Karte hin, der Kollege müsste dann sofort kommen".
Allerdings ist von altehrwürdiger Patina im Inneren kaum mehr etwas zu bemerken:
Magnus Bastian: "Man merkt, dass das doch ein sehr edles Lokal ist, aber man sieht ihm halt nicht mehr an, dass es ein Gebäude von Ende des 16. Jahrhunderts ist. Das haben sie halt schon wegrenoviert..."
Und regionale Spezialitäten gibt es hier auch nur wenige. Das hat, wie der Kellner erklärt, mit den zahlreichen Touristen zu tun, die hierher kommen:
"Deswegen müssen wir das auch auf der Karte schon haben, wie diese Kasselerlinsen, das ist typisch Norddeutschland, aber die Leute fragen danach, die Leute kommen aus Japan mit einem Zettel und da steht drauf: Schweinemedaillons."
Gegessen wird in den Romanen von Ingrid Noll oft und ausgiebig. Nicht zuletzt deshalb, weil auch die Autorin selbst gern isst - und auch mit Leidenschaft kocht:
"Es gibt ja im Haushalt viele Tätigkeiten, da bekommt man niemals Beifall, Hemden bügeln oder Ähnliches wird nicht weiter bemerkt, aber ein gutes Essen kommt immer gut an und man hat Erfolgserlebnisse, außerdem koche ich insofern auch schon gerne, weil ich selber gerne esse. Ich kann mir vorstellen, dass die Leute in meinen Romanen eben auch gerne essen und dass das dann vorkommen soll, und natürlich, die Region hier ist in Deutschland schon eine gute Region für Essen und Trinken."
Nur eine ihrer Protagonistinnen hat für gutes Essen nicht allzu viel übrig: Rosemarie Hirte. Die ist überhaupt ein bisschen anders, eine alte Jungfer, die, als sie sich Hals über Kopf verliebt, buchstäblich über Leichen geht, um dem Objekt der Begierde nahezukommen. Ingrid Noll hat sie ausgerechnet im lauten, trubeligen Mannheim angesiedelt:
"Ich habe Mannheim genommen, weil es hier so vor der Tür liegt, und ich wollte sie auch in einem städtischen Milieu unterbringen, also etwas anonym, nicht so, dass alle Nachbarn sie kennen. Sie passt da auch nicht rein, aber sie passt auch sonst nirgends so richtig rein, die ist ja kein angepasster Mensch, sondern ein Sonderfall."
Mannheim, eine Industriestadt, deren Bewohner sich durch Offenheit und einen gewissen rauen Charme auszeichnen, wie der Soziologe und Kabarettist Hans-Peter Schwöbel erklärt:
"Sie sind deftig, sie sind selbstironisch, also sie nehmen nicht so leicht was krumm. Vielleicht kann man das so sagen, sie nehmen nicht so leicht was krumm. Auf jeden Fall reden wir gern, wir unterhalten uns gern, wir feiern gern, also das kann man glaube ich schon sagen, und wir fühlen uns immer ein bisschen cooler als die Schwaben."
Hier also lebt Rosi Hirte, irgendwo in der Stadt an einer belebten Straße, und kann unerkannt ihre mörderischen Phantasien in die Tat umsetzen:
Zitat: "Zum ersten Mal empfand ich auf dem Friedhof jenes phantastische Gefühl der Macht. Später ertappte ich mich, dass mich mitten auf der Straße eine leichte Euphorie überkam: Niemand kann mir ansehen, dass ich zwei Menschen auf dem Gewissen habe und noch weitere umbringen könnte, wenn ich nur wollte."
Das echte Mannheim – wie es sich auf dem Marktplatz im Zentrum präsentiert – ist kein Ort, an dem sich Rosi Hirte wohlfühlen würde. Nein, sie würde sich wohl in ihrer pedantisch ordentlichen Wohnung verbarrikadieren und die Nase rümpfen über die Vergnügungen der Mannheimer:
Nicht nur Rosi Hirte lebt in Nolls Mannheim. Auch das Ehepaar Paul und Annette aus dem Roman „Rabenbrüder" ist hier heimisch. „Rabenbrüder" – eine wilde Geschichte um schwelende Familienstreitigkeiten und möglicherweise nicht ganz natürliche Todesfälle, und Anwalt Paul hat mit dem Mannheimer Dialekt so seine Probleme.
Zitat: "Als Paul nach seiner Heirat in die Metropole der Kurpfalz zog, hatte er anfangs das dominante mannemerische álla mit moslemischen Riten in Verbindung gebracht, bis ihn Annette über die unterschiedlichen Bedeutungen aufklärte."
Alla kann tatsächlich vieles bedeuten, weiß Hans-Peter Schwöbel:
"Das kommt aus dem Französischen, allez, geht, gehen Sie, oder allons, gehen wir, das ist eine Aufbruchsansprache, zum Beispiel sagen wir: alla kumma gehe. Aber es hat viele Bedeutungen, zum Beispiel auch Ausdruck der Übereinstimmung, alla, das sage ich doch schon die ganze Zeit, also im Sinne von verbinden, schließen, wie das französische alors, oder auch "a la prochaine", bis zum nächsten Mal. Das ist das "alla" als ein Abschiedsgruß. Alla dann, wir sehen uns wieder. Wir sind sehr, sehr vom Französischen beeinflusst, viel mehr als von irgendwelchen anderen deutschen Regionen, und daher kommt dieses 'alla'."
"Als überschaubare, liebenswerte und ehrliche Stadt" wird Mannheim im Roman "Rabenbrüder" charakterisiert. Überschaubar ist sie wirklich - jedenfalls dann, wenn man das System der Quadratestadt begriffen hat. Hans-Peter Schwöbel erklärt es mit Hilfe eines Stadtplans:
Schwöbel: "Das kann man eigentlich nur zeigen (entfaltet Plan) Das ist die Quadratestadt, man kann sagen, die liegt wie ein Kompass eigentlich in der Landschaft, also hier ist Süden, hier Norden, hier Westen, hier Osten, und hier ist das Schloss, und wenn man mit dem Rücken zum Schloss hier steht, dann fängt es hier an mit A 1, A2, A3, also nach Westen wird dann gezählt, und nach Norden geht es weiter bis K. A bis K, und dann geht es hier auf dieser Seite weiter wieder mit L bis U..."
Praxistest am Marktplatz:
Schwöbel: "Also was würden Sie sagen, wenn das F ist, was ist das jetzt, wo wir stehen? Also das ist F1".
"F1, und hier ist F2"
Schwöbel: "Da drüben, da ist F2".
"Also F1, Moment, A, B, C, D, E, F, das heißt, das Schloss müsste irgendwo da sein".
Schwöbel: "Ja, genau, super. Und wo sind wir jetzt?"
"Und hier geht es mit G weiter ..."
Schwöbel: "Ja, G, wir sind G. Das ist F, das ist G, das ist G1. Der Markt ist auf dem Quadrat G1 hier."
Tatsächlich: die Orientierung fällt nicht schwer. Man findet sofort zur größten Einkaufsstraße, Auf den Planken, wo Touristen und Besucher aus der Region an den zahlreichen Läden vorbeiflanieren. Auch Ingrid Noll fährt regelmäßig zum Einkaufen dorthin:
"Vor Weihnachten fahre ich zum Beispiel mit Tochter und Schwiegertöchtern und so weiter in ein edleres Kaufhaus und dann darf sich jeder was zum Anziehen aussuchen, als Weihnachtsgeschenk, ich sitze dann da und gucke mir das an, gebe meinen Senf dazu, wir haben alle Spaß."
Direkt vor den Toren von Mannheim liegt Ladenburg, ein Städtchen, das im Roman "Der Hahn ist tot" eine wichtige Rolle spielt: Hier lebt Rosi Hirtes große Liebe Rainer Witold Engstern, und wann immer Rosi Zeit hat, fährt sie mit dem Auto nach Ladenburg, um Engsterns Haus zu beobachten. Schöner ist es allerdings, mit Hans-Peter Schwöbel die Fähre über den Neckar zu nehmen.
Man tuckert über den Fluss nach Ladenburg, die vielleicht älteste Stadt Deutschlands, mit Ruinen aus der Römerzeit und zahlreichen mittelalterlichen Fachwerkhäusern. Dabei wären die um ein Haar dem Bauwahn eines Bürgermeisters zum Opfer gefallen, erzählt Hans-Peter Schwöbel:
"Also es gab nach dem Krieg einen Bürgermeister, der das alles plattmachen wollte, der war auch so ein Modernisierer, alles abreißen, Beton. Gott sei Dank war kein Geld da. Und als Geld da war, war so viel Vernunft in der Stadt, dass man das dann nicht mehr gemacht hat."
Rosi Hirte allerdings lässt das alles kalt - sie hat ein anderes Ziel, ein ruhiges Wohngebiet mit Einfamilienhäusern und kleinen Gärtchen:
Zitat: "Niemand war auf der Straße zu sehen, das ganze Viertel schien ziemlich ausgestorben. Ich schlich über das Nachbargrundstück mit Kirsch- und Nußbäumen, bis ich Witolds Garten erreichte. Es war nicht schwer, den defekten Drahtzaun hochzuheben und ohne turnerische Anstrengung darunter durchzuschlüpfen."
Und tatsächlich ist es gut möglich, hier in einem Gärtchen unbemerkt zu stehen und das Haus zu beobachten, findet Hans-Peter Schwöbel.
"Vor allen Dingen muss man es sich ja unter Bewuchs vorstellen, also dass es richtig grün ist. Im Winter könnte das nicht funktioniert haben, dass die da im Vorgarten rumgestreift ist und nicht entdeckt worden ist, aber wenn die Bäume grün sind, kann man sich das gut vorstellen."
Grün ist es auch im Schlosspark Schwetzingen, der in den Romanen von Ingrid Noll immer wieder auftaucht. Sie liebt den 72 Hektar großen Park, eine Oase mitten im Städtchen:
Noll: "Es ist eben ein Schloss, was noch solche Merkmale hat, die früher eben besonders interessant waren, eine künstliche Ruine, eine wunderbare Moschee, die eben nicht als Moschee gebaut wurde, weswegen auch die Moslems nicht ganz zufrieden sind, denn sie richtet sich nicht nach Mekka aus. Also ein kleiner Kunstfehler, aber sie ist zauberhaft, und es gibt viele Wasseranlagen und Brücken und das Schloss selber natürlich mit seinen ganzen Räumen, mit großen Truhen, in denen die Diener mal eben schlafen konnten, das kommt auch in einem der Bücher vor, also ich liebe es sehr, es ist zauberhaft eigentlich."
Das Schloss kann allerdings derzeit nicht besichtigt werden - es ist wegen Fassadenarbeiten noch bis Ostern 2016 geschlossen. Aber der Schlosspark steht Besuchern offen, und Ingrid Noll lässt ihre Heldinnen dort gern spazierengehen - die Apothekerin Hella Moormann ebenso wie die alte Lore aus "Ladylike".
Zitat: "Wie stets überquere ich zügig die Zähringer Straße, stecke meine Dauerkarte in den Automaten und passiere den südlichen Eingang, wo sich eine japanische Touristengruppe versammelt hat. Hinter dem abricotfarbenen Schloss halte ich kurz an, um den Blick durch die Mittelachse vom Arions-Brunnen bis zum großen Weiher zu genießen. Wie prächtig ist doch der französische Barockgarten, der sich neben der Hauptallee durch Laubengänge, Hecken, Haine und über zierliche Bogenbrücken bis zum Wasser hinzieht!"
Und wirklich wird der Park nicht nur von Touristen, sondern auch von Einheimischen gern und regelmäßig genutzt, erzählt der Kunsthistoriker Ralf Wagner von der Schwetzinger Schlossverwaltung:
"Wir haben Schwetzinger, die kommen täglich. Also wirklich Stammgäste, die namentlich an der Kontrolle bekannt sind, die gegrüßt werden schon mit Namen und einen Plausch halten mit den Gärtnern und mit den Kontrolleuren, also das haben wir schon. Vor zwei Jahren war's, Ende März, und da war wirklich wunderschönes Wetter, also richtig warm schon, und da sind die ganzen Leute hier von der Umgebung gekommen und haben dann hier abends, hat man richtig gesehen, kommen die Familien und picknicken hier dann im Freien."
Viele Besucher hatte der Schwetzinger Schlosspark auch schon im 18. Jahrhundert, als Kurfürst Carl Theodor ihn für die Bevölkerung öffnete. Das allerdings bedeutete auch: viel Ärger, weshalb eine Gartenordnung notwendig wurde, denn allzu sehr nützten die Schwetzinger das kurfürstliche Entgegenkommen aus:
"Die haben den Garten als Abkürzung zwischen Stall, Scheune und Feld gesehen, sind also hier mit Ackerfuhrwerken durchgefahren, mit bäuerlichen Fuhrwerken, und das gefiel natürlich nicht, und so hat man also dann schon eine Schlossgartenordnung erlassen, da mussten die Bauern darauf achten, dass ihre Knechte und Mägde, wenn sie hier durchgehen, keine Bündel und Lasten auf dem Rücken tragen, sie durften nicht ausspucken, man durfte nicht rauchen, Hunde sind verboten, angeln ist verboten, Besteigen und Bekritzeln von Figuren ist verboten, was man ja heute auch noch kennt, also Angeln ist nicht mehr so das Problem bei uns, aber eben die Beschädigung ist da also auch schon mit drin, und das ist eben diese Schlossgartenordnung, die das auch nochmal reglementiert."
Wenn im Roman "Ladylike" die alternde Lore mit Ewald, jenem Mann, für den sie eine geheime Schwäche hat, durch den Schwetzinger Park spaziert, ist die Moschee ein Fixpunkt. Das Bauwerk erstrahlt in Pfirsichrosa, die Blitzableiter sind mit kleinen Halbmonden versehen und muslimische Hochzeitspaare lassen sich gern hier fotografieren.
"Das ist die letzte erhaltene Gartenmoschee... (er sperrt auf), also es gab eine richtige Turquerie, also eine Türkenmode im späten 18. Jahrhundert, die Türken sind keine Gefahr mehr für Europa, die Türkenkriege sind alle siegreich beendet worden und man kann sich jetzt quasi künstlerisch dem Thema Islam nähern."
Das tat man freilich mit viel künstlerischer Freiheit. Nicht nur ist die Moschee falsch ausgerichtet, nicht nach Osten, sondern nach Westen, es gibt noch andere, gravierende Fehler:
"Also wer arabisch lesen kann, wird feststellen, dass hier alles verkehrt ist, weil eben der Steinmetz und der Stukkateur kein Arabisch konnten. Also selbst das Wort Allah auf der anderen Seite, der Seeseite, ist verkehrt geschrieben. Also wir hatten auch wirklich einen Imam mal hier und der wollte auf seine Kosten dann das Wort Allah richtig schreiben lassen, was natürlich nicht geht. Da spricht ja der Denkmalschutz dagegen, also es ist halt im 18. Jahrhundert falsch geschrieben worden, damit müssen wir halt heute leben."
Hinter der Gartenmoschee geht es um einen großen See herum. Hier findet man jene Pflanze, die Lores Freundin Anneliese im Roman „Ladylike" gern zu einer Suppe verarbeitet:
"Bärlauch. Das wächst hier überall. Ich würde ihn aber nicht pflücken hier, weil wir nach wir vor eben auch Hunde haben, die hier Gassi geführt werden, und zweitens gibt es auch den Fuchsbandwurm. Also es ist nicht ganz ungefährlich, da - und man kann es wie gesagt mit Maiglöckchen und Herbstzeitlosen verwechseln und beide sind giftig."
Eben diese Verwechslungsgefahr hat Ingrid Nolls Phantasie angeregt. So wie auch die künstliche Ruine am anderen Seeufer, neben der Nolls Apothekerin Hella Moormann gerne picknickt. Diese Ruine mit ihrer zerstörten Kuppel ist ein Meisterwerk des Architekten Nicolas de Pigage, erzählt Ralf Wagner:
"Mit den Baumethoden des 18. (Jahrhunderts) ist es eigentlich nicht nachvollziehbar, und er hat es tatsächlich geschafft, eine zerstörte Kuppel zu bauen. Also es ist ein absolut cleverer technischer Bau, den wir hier haben, also das glaubt man kaum, und es war sehr diffizil für die Architekten heute, das herauszufinden. Und die Statik zu begreifen, wie der das eigentlich gemacht hat, weil eigentlich kann es nicht funktionieren. Also jeder müsste sagen, da das Rund des Tambours, der Kuppel nicht mehr da ist, müsste die bersten."
Tatsächlich: der Bau sieht ganz und gar wie eine Ruine aus, umgeben von scheinbar zufällig verstreuten Sandsteinblöcken, die die Damen des kurfürstlichen Hofes vor eine Herausforderung gestellt haben müssen:
"Wenn man sich das eben vorstellt, wir sind hier, spätes 18. Jahrhundert, die Damenmode, wenn Sie offiziell bei Hofe sind, ist immer noch der weite Reifrock, Sie haben hohe Stöckelabsätze, und Sie müssen jetzt diese unregelmäßigen Sandsteinbrocken da hochklimmen, brauchen Sie die hilfreiche Hand eines Kavaliers und das hatte dann schon ein bisschen was von Abenteuerromantik."
Hinter der Ruine, genau dort, wo Nolls Romanheldin Hella Moormann gern picknickt, machen sich jetzt andere Gäste breit: drei Gänse, zwei Nilgänse und ein weißer Hausganter:
"Wir haben also eine Hausganskolonie, und die haben sich teilweise diesen Nilgänsen angeschlossen. Die hinterlassen riesige Haufen. Dass also wirklich Besucher schon fragen, ob wir hier wirklich ein großes Hundeproblem haben, weil das sind riesige Haufen."
Für Ingrid Noll ist es vor allem ein idyllischer Park, der Schwetzinger Schlossgarten, so idyllisch, dass sie bislang darauf verzichtet hat, ihn zum Schauplatz eines Mordes oder Unfalls zu machen. Vielmehr dient der Park ihren Heldinnen als Rückzugs- und Erholungsraum.
Ein heller Raum mit bunten Bleiglasfenstern und einem verführerischen Tortenangebot. Da kann man Lore gut verstehen:
Zitat: "Soll meine schlanke Taille doch zum Teufel gehen, sage ich mir trotzig, bisher hat sie mir wenig Komplimente eingebracht. Ohne Skrupel bestelle ich mir den größten Eisbecher, den ich auf der Speisekarte finden kann."
Die Natur hat es Ingrid Noll angetan, das zeigen ihre Romane deutlich. Immer wieder thematisiert sie die Flora und Fauna und benennt kundig Gräser, Pflanzen und Tiere. Ein Erbe ihrer Kindheit in China, wo sie mit Tieren aufwuchs:
"In Nanking, wo wir lange lebten, hatten wir alles Getier, was man sich vorstellen kann, und meine erste Fremdsprache war wahrscheinlich Hündisch oder auch Ziegisch. Wir hatten alles mögliche und durften das auch, es war Platz, es war Personal da, die Eltern mussten sich da nicht viel kümmern, und wir hatten auch einen großen Garten, dafür aber keine anderen Kinder zum Spielen, aber das prägt natürlich. Ich habe mich damit immer beschäftigt."
Und naturnah wohnt sie auch selbst: im badischen Weinheim, einem kleinen Städtchen an der Bergstraße, in dem man gut Wein trinken kann. Der Name Weinheim hat damit allerdings nichts zu tun, erläutert Maria Zimmermann, Geschäftsführerin beim örtlichen Stadt- und Tourismusmarketing:
"Weinheim heißt deshalb Weinheim, weil das abgeleitet ist von einem Herrn Vino, der eine Schenkung gemacht hat an das Kloster Lorsch, heute Unesco-Weltkulturerbe und ja nicht weit von Weinheim entfernt. Mit Wein im ursprünglichen Sinne hat es nichts zu tun, es gibt natürlich hier Wein in Weinheim, aber der meiste ist im Besitz eines Großunternehmens, der Firma Freudenberg hier, die sind Eigentümer der meisten Weinberge in Weinheim. Aber es gibt auch noch ein paar kleine Winzer, die halt hier auch Wein anbieten."
Weinheim spielt in Ingrid Nolls Romanen immer wieder eine Rolle - allerdings achtet sie sorgfältig darauf, nicht allzu konkret zu werden:
"Zum Beispiel in meinem letzten Buch gibt es eine Biberstraße. In Weinheim gibt es die nicht. Aber unser ältester Sohn hat den Künstlernamen Biber und deswegen sagen viele Leute: es muss wohl in dieser Straße sein, wo er wohnt. Das ist aber nicht unbedingt der Fall; ich erfinde Häuser und ich erfinde Straßennamen, aber natürlich erfinde ich auch die Menschen. Es soll nie einer denken: ich bin gemeint, oder: das ist mein Nachbar."
"Hab und Gier" heißt Ingrid Nolls bislang letzter Roman, in dem ein alter, wohlhabender Mann seine ehemalige Kollegin zur Erbin einsetzen will, unter der Voraussetzung, dass sie ihn umbringt. Und nicht alle Schauplätze aus Weinheim sind erfunden.
Zitat: "Der historische Marktplatz unseres Städtchens passt sich der natürlichen Geländeform an und ist von der Laurentius-Kirche bis hinunter zur Löwen-Apotheke etwas abschüssig. An schönen Tagen sind die Tische der Cafés und Restaurants fast alle besetzt, am Wochenende ist oft kein Platz mehr zu bekommen. Touristen und Besucher aus der näheren Umgebung fallen hier ein, aber auch die Einheimischen lassen sich gerne unter japanischen Schnurrbäumen und großen Schirmen nieder und genießen den Blick auf Fachwerkhäuser und andere Gäste."
Genau so sieht er aus, der echte Marktplatz von Weinheim – und auch wenn der Frühling noch nicht da ist: eine Vorahnung auf den Sommer ist spürbar:
"Diese Bäume, Robinien, die sehen ein bisschen aus wie Akazien, die machen dann ein grünes Dach, jetzt sind sie schwer beschnitten und hier sitzt alles voll und es ist warm, warmer Sommerabend, und hat sowas, die Toskana Deutschlands heißt es."
Schon in Nolls Erstling, "Der Hahn ist tot", wurde dieser Marktplatz zum Ort einer sorgfältig arrangierten Begegnung: Zur Zeit der Weinheimer Kirmes, der Kerwe, fädelt Rosemarie Hirte hier ein scheinbar zufälliges Treffen mit Rainer Engstern ein:
"Die Kirmes ist immer im August, und dann ist hier natürlich tolles Wetter, die Kirmes ist jetzt nicht an einer Stelle nur, sondern in der ganzen Altstadt, da gehen wir gleich noch ein bisschen rum, und jeder, der möchte, kann eine Straußwirtschaft eröffnen, also er kann seine Garage aufmachen, eine kleine Birke reinstellen, das heißt, es ist eröffnet, und die Nachbarn oder auch ganz Fremde sitzen dann zusammen und trinken was, nicht? Da kann man sich zufällig treffen und kennenlernen. Weil da oft ganz fremde Leute eben zusammen an einem Tisch sitzen und es ist eine ganz urige Angelegenheit.
Dann haben wir ein Frühlingsfest hier der Kinder, dann gehen die Kinder mit Stecken, das ist wirklich noch sehr alt, mit Stecken und Brezeln, an einem Stock haben sie die Brezeln und bunte Bänder, und singen 'stri stra stroh, der Summer, der ist do'. Und am Schluss wird ein Schneemann hier auf dem Marktplatz verbrannt, und alle stehen drumrum und singen andere Lieder wie 'alle Vögel sind schon da', also ein Kinderfest."
Ein Bächlein namens Weschnitz
Es ist ein malerisches Städtchen, mit mittelalterlichen Fachwerkhäusern, eine Kulisse, die Ingrid Noll immer wieder inspiriert. Allerdings meidet die fast 80-jährige mittlerweile die steilen, engen Gassen, und auch in der Umgebung ist sie nicht mehr so oft unterwegs wie früher. Beim großen Steinbruch etwa, der im Roman "Der Hahn ist tot" zum Schauplatz des Finales wurde: Hier will Rosemarie Hirte gemeinsam mit Rainer Witold Engstern eine Leiche entsorgen:

"Wenn man oben geht, ganz oben am Berg und schaut runter, dann kann man sich natürlich gut vorstellen, dass da ein Unglück passiert, dass ein Auto runterstürzt oder ein Mensch runtergeschmissen wird; als mein Buch "Der Hahn ist tot" neu erschien, kam vom ZDF ein Team und wir sind da auch raufgestiefelt und haben dann einen Bettbezug gefüllt mit Matratzen und Kissen da runtergeschmissen, es gab aber da ein kleines Problem, denn er war zu leicht. Er blieb gleich wieder hängen."
Heute betrachtet Ingrid Noll den mächtigen Steinbruch lieber von unten, wo ein Bächlein namens Weschnitz vorbeirauscht. Manchmal geht sie auch auf dem Weinheimer Friedhof spazieren.
"Ich schaue mir auch immer gerne Gräber an und sehe, dass es da Moden gibt, dass man zu bestimmten Zeiten irgendwelche Granitplatten aufrecht oder waagerecht hingestellt hat, dass die Sprüche unterschiedlich sind, die altmodischen haben einen ganz anderen Charme oder Reiz, Kindergräber haben auch eine Mode, dass man heute doch immer mehr Spielzeug drauftut, Schwulengräber sehen auch schon wieder anders aus, nämlich bunter, phantasievoller, dann habe ich in meinem letzten Buch, dass sich diese kleinen weißen kitschigen Gipsengel vermehren und vermehren, die sind fast überall zu finden, ja, das ist eigentlich schon spannend."
"Erstaunt bemerkte ich, dass sich die kleinen Putten aus wetterfestem Steinguss wundersam vermehrt hatten. Manche Gräber wiesen bis zu acht Engel auf, einige eine Madonna. Die meisten Himmelsboten waren relativ neu und blendend weiß, die paar älteren aus Keramik wiesen Sprünge auf, setzten Moos an, ergrauten, passten sich dem Erdreich an und wurden irgendwann zu Staub."
...meint Clara, die Protagonistin aus dem Roman „Hab und Gier" – und verknüpft damit Phantasie und Wirklichkeit, hier zwischen den Gräbern des Weinheimer Friedhofs, wo in den Ästen einer großen Trauerweide eine Meise zwitschert.
"Ein singendes Meisenvögelchen".
Sie sind eng mit der Region verknüpft, die Romane von Ingrid Noll. Jede Stadt, jeder Ort hat eine eigene Geschichte, eine unverwechselbare Atmosphäre, die die Autorin in ihren Büchern einfängt. Ihre eigenwilligen und oft mörderischen Heldinnen sind gut aufgehoben in Mannheim, Darmstadt, Heidelberg oder Weinheim. Und so war es ein glücklicher Zufall, der dafür sorgte, dass Ingrid Noll gerade hier heimisch geworden ist:
"Mein Mann hat als junger Arzt die Facharztprüfung hinter sich gebracht und es war eben Zufall, dass am Weinheimer Krankenhaus damals eine Stelle für einen Internisten angeboten wurde. Und ich war eine Fremde erstmal hier, auch mit dem Dialekt nicht vertraut, aber wenn man kleine Kinder hat, die dann in den Kindergarten gehen und in die Schule, lernt man schnell andere Menschen kennen, schließlich nach einigen Umzügen haben wir ein eigenes Haus gekauft, irgendwann nach vielen Jahren, und inzwischen sind es bei uns 48 Jahre, ist man verwurzelt und es wird zur Heimat."
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