Mitteleuropa

Geschichten aus einem wilden Osten

Ein Motivwagen für den Rosenmontagsumzug zeigt am 05.02.2013 in Köln (Nordrhein-Westfalen) den russischen Staatschef Putin mit dem Schauspieler Gerard Depardieu als Obelix. Foto: Oliver Berg/dpa
Gérard Dépardieu und Wladimir Putin, hier bein Kölner Karneval 2013, schwingen als prächtige Kerle irgendwie auch im Road-Movie-Buch von Sylvain Tesson mit. © picture alliance / dpa / Oliver Berg
Von Florian Felix Weyh · 26.03.2016
Sylvain Tesson folgt dem Rückzug Napoleons. Robert Saemann-Ischenko macht aus weißrussischen Jagdgeschichten einen Thriller. Und Marius Hulpe trifft in Krakau Westeuropäer, die von EU und Flüchtlingen in Ruhe gelassen werden wollen.
"Sicher, es würde nicht der Alptraum von 1812 werden", sagt der Mann, bevor er sein vorsintflutliches Motorrad samt Beiwagen besteigt. "Aber allemal sportlicher als ein Picknick in der Toskana." Und irgendwie auch bizarrer, denn die russische Ural (das Motorrad mit Beiwagen) schmückt sich mit Zweispitz und napoleonischer Flagge.
"Man gewöhnt sich schnell daran, einen Zweispitz zu tragen", meint der Mann, dem in Frankreich der Ruf vorauseilt, er sei der einzig würdige Nachfolger von Bruce Chatwin, dem legendären Reisejournalisten des 20. Jahrhunderts.
Ist er aber nicht. Sylvain Tesson, französischer Abenteurer mit Hang zum Maulheldentum schafft in durchgängig rüder Diktion eine völlig neue Gattung fern aller stilistischen Eleganz eines Bruce Chatwin, nämlich History-Trash. Auf der wodka-getränkten Motorradtour von Moskau nach Paris, die Napoleons Rückzugsroute von 1812 nachzeichnet, übt sich ein französisch-russisches Männerteam in sinnfreier postmoderner Draufgängerei.

History-Trash über eine Reise auf Napoleons Routen

Man kämpft gegen Schnee und Eis und die mechanischen Tücken der reparaturanfälligen Uralt-Maschine. Weil das allein kein Buch füllen würde, erzählt Tesson dazwischen Napoleons Niederlage vor Moskau nach – allerdings unter souveräner Auslassung aller modernen Erkenntnisse. Seine Quellen stammen überwiegend aus dem 19. Jahrhundert.
Buchcover: "Napoleon und ich" von Sylvain Tesson
"Napoleon und ich" von Sylvain Tesson© Knaus Verlag
Aber um historische Erkenntnisse geht es ohnehin nicht, sondern einzig um die Botschaft, dass in Europa nur noch zwei Nationen ganze Kerle hervorbringen: Frankreich und Russland. So sieht man beim Lesen denn auch eher die Gesichter von Wladimir Putin und Gérard Depardieu vor sich als die der echten Protagonisten: Männer von napoleonischem Selbstbewusstsein, zugleich von keines Gedankens Blässe angekränkelt.
"Am Lenker zu sitzen", erkennt der schreibende Motorradfahrer einmal, "erzieht nicht zum Denken." Wohl wahr – gilt das doch für Diktatoren nicht minder als für motorradfahrende Journalisten.

"Napoleon und ich". Silvain Tesson über eine abenteuerliche Reise von Moskau nach Paris, aus dem Französischen übersetzt von Holger Fock und Sabine Müller, Knaus Verlag Müchen, 224 Seiten, 19,99 Euro

Tessons Reenactment auf dem Motorrad kreuzt auch weißrussisches Territorium. Dem Franzosen fällt nichts auf. Der deutsche Jagd-Journalist Robert Saemann-Ischenko sieht hingegen zweierlei: Ein historisch vermintes Gelände und einen veritablen Gewaltherrscher. Der heißt Lukaschenko und taucht seit der Ukraine-Krise geschickt unter dem Menschenrechts-Radar der Europäer hindurch.
Dabei gibt es in Weißrussland alles Hässliche, was Diktaturen seit jeher auszeichnet: Willkürherrschaft, verschwundene Menschen und einen "Präsidenten", der die imperiale Geste liebt. Wie Nachbar Putin präsentiert sich auch Lukaschenko als größter Jäger vor dem Herrn – und könnte dabei, so Saemann-Ischenkos Thriller-Kalkül, auch der Gejagte sein: Schießen Sie nicht auf Wisente, schießen Sie auf Diktatoren!

Geschichtslektion übers Jagen mit Dikatoren

Ein fränkischer Rentner nimmt sich eben dies als letzte Tat seines Lebens vor – doch bis der Schuss fällt, lernt der Leser eine Großlektion über das deutsche Jagdwesen seit 1933. Denn natürlich unterhielt Göring in Weißrussland eine Staatsjagd in wörtlichem Sinne, auf Tier und Mensch, und seine brutalen Statthalter schrieben nach dem Krieg unbehelligt Lehrbücher über "waidgerechtes Verhalten" und den großen Naturethos der Jagd.
Buchcover: "So ich dir" von Robert Saemann-Ischenko
"So ich dir" von Robert Saemann-Ischenko© Books on Demand
Weil derartige Vermischungen des waidgrünen Milieus mit dem braunen niemanden mehr hinter dem Ofen hervorlockt, rückt Saemann-Ischenko die Thriller-Handlung in den Vordergrund. Die funktioniert genregemäß als Wettlauf gegen die Zeit. Doch im Unterschied zu den meisten Büchern dieser Art erfährt man fast zu viel Insiderwissen übers richtige Kaliber beim Diktatorenmord.
Prädikat: Freigegeben für Jagdscheinbesitzer.

"So ich dir". Robert Saemann-Ischenko bei Books on Demand. 280 Seiten, 9,99 Euro.

"Portugiesen, Iren, Belgier, Griechen, Schotten, Spanier, alle sind sie in rauen Mengen vertreten", beobachtet Marius Hulpe in Krakau. Und wo liegt Krakau? In Polen – jenem Polen, das sich weigert, auch nur einen syrischen Flüchtling aufzunehmen.
Im Westen schiebt man das auf die neue polnische Rechtsaußen-Regierung, doch Hulpe, selbst lange Jahre in Krakau an der Universität tätig, sieht eine "groteske innere Allianz" am Werk: Die westeuropäischen Zuwanderer – hauptsächlich aus gut katholischen Ländern – finden nämlich auch, dass Muslime in Polen nichts verloren hätten.

West-Katholiken stehen Polen wider Migration bei

In ihrem Bedürfnis, von fremden Mächten gefälligst in Ruhe gelassen zu werden, haben die westeuropäischen Zuwanderer den Kernpunkt der polnischen Identität übernommen: Das Gefühl des notorischen Missbrauchtwerdens. Diesmal nicht von aggressiven Nachbarstaaten, diesmal von der EU.
Cover: "Der Polen-Komplex" von Marius Hulpe
"Der Polen-Komplex" von Marius Hulpe© Hanser Verlag
Diese Erzählung der eigenen Ungeschütztheit lasse Polen für die europäische Zukunft vielleicht zu einem Modellfall werden: als ein Prüfstein, so der Autor. Hoffentlich stolpert darüber nicht ganz Europa.

"Der Polen-Komplex", beschrieben von Marius Hulpe in seinem E-Book für den Hanser Verlag München, 2,99 Euro.

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