"Mit der Babyklappe für das Kind einen sicheren Raum schaffen"

Rainer Rossi im Gespräch mit Ulrike Timm · 20.01.2012
Eine Babyklappe könne im Einzelfall nur eine Notlösung sein, sei aber wie die anonyme Geburt noch besser, als nichts zu tun, macht Rainer Rossi, Chefarzt der Vivantes Kinderklinik in Berlin-Neukölln deutlich. Dass mit einer Babyklappe die Kindstötung verschwinde, sei eine unrealistische Hoffnung.
Ulrike Timm: Wenn eine Mutter so gar nicht weiterweiß, für sich und ihr Neugeborenes nicht sorgen kann oder will, aus welchem Grund auch immer, dann kann sie es in einer Babyklappe ablegen und sicher sein, dass es hier schnell gefunden und versorgt wird und eine Chance auf eine Zukunft hat, die die Mutter für sich und dieses Kind eben nicht sah.

Das ist die große Hoffnung hinter der Idee der Babyklappe, die jetzt erstmals in einer Studie einer kritischen Prüfung unterzogen wurde, und diese Prüfung macht recht skeptisch. Die, die man erreichen wollte, erreicht man offenbar nicht so recht, rechtlich ist die Lage schwierig, und ein Kind, das seine Wurzeln nicht kennt, hat es häufig schwer im Leben. Gestern hatten wir dazu ein Gespräch mit Christiane Woopen vom Deutschen Ethikrat, heute wollen wir weiter darüber nachdenken mit Rainer Rossi. Er bringt praktische Erfahrungen mit als Chefarzt der Kinderklinik im Vivantes Krankenhaus Berlin-Neukölln, das hat so eine Babyklappe. Guten Morgen, Herr Rossi!

Rainer Rossi: Guten Morgen!

Timm: Herr Rossi, in welchem Zustand finden Sie denn so ein Baby in der Babyklappe vor?

Rossi: Also wir hatten bisher ausschließlich die Erfahrungen gemacht, dass es sich wirklich um Neugeborene gehandelt hat, die ausnahmslos in einem guten Zustand waren, also keines dieser Kinder war bedrohlich krank oder in irgendeiner Weise vorgeschädigt.

Timm: Liegt denn manchmal eine anonyme Botschaft bei, in der die Mutter zum Beispiel aufschreibt, was sie sich wünscht?

Rossi: Auch das haben wir bisher nicht gefunden. Seit einiger Zeit legen wir umgekehrt ein Briefchen bei, mit dem die Mutter sich melden kann, das sie quasi auch als Hinweis darauf bekommt, dass sie ihr Kind in die Babyklappe gelegt hat. Da ist so ein Code drauf, der diesem Kind zugeordnet wird. Wenn sie also ihre Anonymität brechen möchte, kann sie das tun.

Timm: Ist der schon mal genutzt worden?

Rossi: Dieser Code selber ist noch nicht genutzt worden, aber wir haben eine Mutter, die sich im Nachhinein gemeldet hat, bei der dann in Zusammenarbeit mit dem Jugendamt geklärt werden konnte, dass sie wirklich die Mutter ist. Und dann ist mit entsprechender sozialmedizinischer Begleitung dieses Kind tatsächlich zu seiner Mutter zurückgekommen.

Timm: Das heißt, das ist sozusagen Ihr Teil der Notfalllösung, falls eine Mutter doch letztlich im Kurzschluss gehandelt hat und es hinterher bereut?

Rossi: Ja, eine solche Notfalllösung möchten wir haben, und wir sind auch sehr froh, dass wir als eine der wohl nicht ganz vielen Babyklappen eine schriftliche Vereinbarung mit dem Bezirk Neukölln haben, in der geregelt ist, dass wenn wir ein Kind in der Babyklappe finden, wir unmittelbar das Jugendamt informieren und das dann auch eine Inobhutnahme ausspricht, sodass alle weiteren Regelungen in enger Abstimmung und geleitet durch das Jugendamt in die Wege geleitet werden.

Timm: Die Anonymität, Herr Rossi, die schützt die Mutter, das Kind hat erst mal, ja, sein nacktes Leben gesichert, auch das ein Grund, warum Babyklappen eingerichtet wurden - man hoffte Kindstötungen zu verhindern. Das Kind beginnt aber ein wurzelloses Leben, was unsere Gesprächspartnerin Christiane Woopen gestern so kritisierte:

Christiane Woopen: Das ist insofern bedenklich, als die Kinder in ihrer Identitätsbildung schwere Nachteile haben und auch erhebliche Defizite im Selbstwertgefühl entwickeln können, mit allen damit verbundenen Ab- und Umwegen im späteren Lebenslauf.

Timm: Was meinen Sie dazu, Herr Rossi?

Rossi: Also Frau Woopen hat sicher recht, wenn sie sagt, dass das bedenklich ist, dass ein Kind seine Wurzeln nicht kennt, auf der anderen Seite müssen wir abwägen - und das ist ein schwieriger Prozess wohl auch im Deutschen Jugendinstitut zusammengesessen sind und wo das mit Frau Woopen und anderen kritisch diskutiert worden ist.

Wir haben zunächst einmal die Situation, dass wir mit der Babyklappe für das Kind einen sicheren Raum schaffen, in dem es überleben kann. Und ich denke, das andere ist nachgeordnet. Das ist dann wichtig und zu bedenken, und es ist zu begleiten mit den Eltern oder den Adoptiveltern dieses Kind, aber für mich ist das kein Argument, grundsätzlich zu sagen, eine Babyklappe darf nicht sein.

Timm: Die Studie, die zweifelt am Sinn von anonymer Geburt und Babyklappe. Belegt sind knapp tausend solcher Geburten in zehn Jahren, davon ein Drittel Kinder, die man in Babyklappen fand. Sie halten das für sinnvoll, aber viele, die man zu erreichen erhoffte, zum Beispiel Drogenabhängige, für die das eine Alternative sein könnte zur Abtreibung oder im schlimmsten Fall sogar zur Kindstötung, die scheint man gar nicht zu erreichen.

Rossi: Ich glaube nicht, dass man das so wirklich sicher sagen kann. Das Deutsche Jugendinstitut hat in einer großen, aufwendig gemachten Studie gefragt, wie die Praxis um die Babyklappen ausschaut. Wir wissen zu wenig um die Mütter, es haben sich einige Mütter für Interviews zur Verfügung gestellt, aber ich kann mir nicht so recht vorstellen, dass das ein repräsentativer Querschnitt der Mütter ist, die ihr Kind in die Babyklappe gegeben haben oder die es anonym geboren haben.

Wir wissen es also nicht wirklich. Wir wissen sicher, dass die Kinder, die in einer Babyklappe abgegeben worden sind, dann in eine sichere Obhut gelangt sind. Das ist zunächst das Vorrangige. Ich habe nie die klare Absicht gehabt zu sagen, mit einer Babyklappe wird die Kindstötung verschwinden - das ist eine unrealistische Hoffnung.

Timm: Deutschlandradio Kultur, das "Radiofeuilleton", im Gespräch mit dem Kinderarzt Professor Rainer Rossi. Herr Rossi, eine andere Alternative, auch in besagter Studie des Familienministeriums untersucht, ist die anonyme Geburt. Wie eigentlich kann eine Geburt anonym sein? Etwas Intimeres und Emotionaleres, als ein Kind zu kriegen, gibt es doch gar nicht.

Rossi: Ja, die Mutter kann ohne Papiere in der Klinik ankommen und sagen, ich heiße soundso, und dann ist sie jemand anderes, und wenige Stunden nach der Geburt ist sie verschwunden. Diese Situationen hat es immer schon gegeben, das ist eine seltene, aber tatsächlich vorkommende Realität.

Timm: Aber müssen Mütter nicht automatisch ihre Personalien angeben, damit zum Beispiel die Krankenkasse die Entbindung zahlt, also wie ist es überhaupt möglich, anonym bis in den Kreißsaal zu kommen?

Rossi: Ja, man kann ja sagen, ich heiße Erna Müller und hab meine Papiere in der Not der kommenden Geburt zu Hause vergessen. Ich bring das dann nach später. Und wenn dann die Frau weg ist, ist das quasi eine anonyme Geburt.

Timm: Aber wie weit geht die Anonymität wirklich? Macht sich das Jugendamt nicht eben wieder mit Blick auf das Kind anschließend doch noch auf die Suche?

Rossi: Das kann sich selbstverständlich auf die Suche machen, und es gibt auch immer mal wieder Anrufe von Verwandten, wo ist dieses Kind geboren worden, die Frau ist nicht mehr schwanger, oder auch von der Polizei. Aber ich glaube nicht, dass alle Mütter dieser Kinder wiedergefunden werden.

Timm: Anonymität nimmt dem Kind die Wurzel, weshalb sie ja schon rechtlich kaum zu halten ist, aber lassen Sie uns mal aus der Sicht der Mutter sprechen, die diese Anonymität für sich ja auch als Schutz erlebt, aus welchem Grund auch immer, sonst würde sie dieses Angebot nicht nutzen. Können Sie da Rückschlüsse ziehen, warum diese Anonymität so entscheidend ist?

Rossi: Keine sicheren Rückschlüsse. Das sind eher Vorstellungen, die wir haben davon, dass die Mutter zum Beispiel sich ein Kind, in Anführungsstrichen, "nicht leisten" kann, weil sie zum Beispiel illegal irgendwo lebt, dass sie bedroht ist von ihrer Familie, weil dieses Kind nicht sein darf, weil sie für sich selber keine Chance sieht, dieses Kind gesund und einigermaßen sicher aufzuziehen. Und das ist der Grund dafür, dass es das Angebot der anonymen Geburt und auch der Babyklappe gibt. Wobei - und das hatte ich auch immer wieder gesagt - die anonyme Geburt vorzuziehen ist, weil hier eine größere Sicherheit für die Mutter gegeben ist. Denn bei der Babyklappe muss ich ja immer annehmen und weiß das zum Teil auch, dass das Kind irgendwo als sogenannte Laiengeburt zur Welt gekommen ist.

Timm: Unsere gestrige Gesprächspartnerin Christiane Woopen stand der Anonymität solcher Geburten nicht nur aus rechtlichen Gründen skeptisch gegenüber. Hören wir sie noch einmal:

Woopen: Was die Studie auch ergeben hat, ist ja, dass die Frauen zwar gegenüber bestimmten Gruppen oder Personen anonym bleiben wollen - entweder dem sozialen Umfeld oder Behörden oder dem Arbeitgeber gegenüber -, die meisten haben aber nicht das Bedürfnis, dem Kind gegenüber anonym zu bleiben. Was die Studie sehr schön zeigt, ist, dass ganz im Gegenteil diese Anonymität auch erhebliche Belastungen mit sich bringt, weil es ja dazu führt, dass die Schwangerschaft verheimlicht werden muss, dass die Frau nicht in eine medizinische Versorgung während der Schwangerschaft hineinkommt. Das heißt, sie wird ganz und gar alleine gelassen.

Timm: Die medizinische Versorgung sprachen Sie ja eben auch an, Herr Rossi, mit dem Stichwort Laiengeburt, dass eine Mutter also auch nicht den Schutz eines Krankenhauses hat in so einer Babyklappe und selten bei einer anonymen Geburt, wenn sie auf die letzte Tüte kommt - ist dieses Dilemma überhaupt aufzuheben?

Rossi: Das Dilemma ist nicht wirklich aufzuheben. Die Frau ist sicher - und da will ich überhaupt gar nichts kleinreden - in einer Ausnahmesituation, die für sie eine extreme Belastung bedeutet. Jede andere Fantasie wäre, glaube ich, fahrlässig. Auf der anderen Seite weiß sie mit der Babyklappe, dass das Kind sicher versorgt ist, und in ihrer großen Not kann dieses eine entscheidende Entlastung sein. Selbst dann, wenn es sich nur um eine Kurzschlussreaktion, eines Momentes handelt, denn es gibt die Situation und die Möglichkeit, dass sie sich später wieder meldet, und das ist ja auch geschehen.

Timm: Letztlich zeigt es nicht nur die Hilflosigkeit einer Mutter, die für sich und ihr Kind keinen Weg sieht, sondern in dieser Situation ja auch Mut. Sie hat ihr Kind nicht abgetrieben, sie übernimmt auch Verantwortung, wenn sie sich entscheidet, offenbar hat es mein Kind ohne mich besser. Wenn aber Babyklappen offenbar doch keine so gute Lösung sind - sie werden ja doch sehr, sehr wenig genutzt, das hat die Studie auch nahegelegt -, gibt es aus Ihrer Sicht eine noch bessere Idee, die zu verwirklichen wäre?

Rossi: Die vorherige Kontaktaufnahme und Beratung durch die verschiedenen Beratungsmöglichkeiten ist auch viel besser als eine Babyklappe oder eine anonyme Geburt. Wir müssen nur einfach registrieren und annehmen, dass es ein Teil dieser Frauen gar nicht schafft, diese Rationalität hinzubekommen: Ich gehe jetzt zum Amt, weil ich Hilfe brauche, oder zu einer anderen Beratungsstelle. Und weil ich das nicht kann, kann im Einzelfall eine solche Notlösung - und mehr ist sie nicht - einer Babyklappe oder einer anonymen Geburt immer noch besser sein, als gar nichts tun.

Timm: Rainer Rossi, Chefarzt der Kinderklinik im Vivantes Krankenhaus in Berlin-Neukölln, das eine Babyklappe hat. Herr Rossi, ich danke Ihnen sehr für dieses Gespräch! Alles Gute!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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