Mit Allah hinter Gittern

In Deutschland gibt es über 550 angestellte Pfarrer, die im Auftrag der evangelischen und der katholischen Kirche den Menschen im Gefängnis seelisch beistehen. Einer der wenigen muslimischen Gefängnis-Seelsorger ist Ahmet Özdemir. Er kümmert sich seit 15 Jahren ehrenamtlich um Inhaftierte in der Justizvollzugsanstalt Münster.
Ahmet Özdemir: „Wir wollen Pfarrer Wever, der weiß Bescheid.“

Vollzugsbeamter: „Ich bräuchte einmal Ihre Ausweise bitte und Ihre Handys …“

Tür summen, Schlüssel fällt auf Tisch

Vollzugsbeamter: „Der Pfarrer Wever ist informiert, der holt sie sofort hier ab ...“

Freitagmittag um kurz vor eins vor dem Haupteingang der Justizvollzugsanstalt Münster. Ahmet Özdemir gibt seinen Ausweis und sein Handy ab und wartet auf den evangelischen Gefängnispfarrer Dieter Wever. Dann erst kann er die Außenpforte passieren.

Vorbei geht es an dicken roten Backsteinmauern und vergitterten Fenstern. Die Justizvollzugsanstalt Münster liegt am Rand der Innenstadt und ist mit ihren fast 160 Jahren das zweitälteste Gefängnis Deutschlands. Ahmet Özdemir kann sich noch gut daran erinnern, wie es war, als er vor 15 Jahren zum ersten Mal die Anstalt betrat.

„Bisschen Aufregung war da. Mit den ganzen Türen auf und zu. Aber ich habe bis jetzt auch keine Angst gehabt, keine schlechte Worte von den Gefangene über mich oder gegen mich gehört. Ich wurde ganz gut angenommen.“

Ahmet Özdemir ist ein gelassener, selbstbewusster Mann mit wachen Augen und dunklem Schnurrbart. Aufgewachsen ist der 49-jährige ausgebildete Pädagoge in der Türkei, dort hat er auch Theologie studiert. In seiner Wahlheimat Münster verdient er sein Geld bei den Stadtwerken. Immer schon hat er sich auch ehrenamtlich engagiert.

„Wenn ich in die Stadt fuhr, fuhr ich immer JVA Münster. Und habe ich mir gedacht mit der Zeit, hinter dieser dicken Mauer gibt es bestimmt muslimische Gefangene. Und wie ist mit denen? Mit Feiertagen, mit Festtagen?“

Fast 90 Muslime sind unter den über 500 Gefangenen. Die Mehrheit der Inhaftierten verbüßt nur kurze Haftstrafen. Sie sitzen wegen Drogenhandel oder Körperverletzung, schwere Delikte sind die Ausnahme. Ahmet Özdemir wendet sich als Seelsorger an alle Muslime, egal aus welchem Land sie kommen. Er will sie begleiten – in ihren Glaubens- UND Lebensfragen. Worte des Propheten Mohammed helfen ihm dabei.

„In einem Vers sagt er ´Gott ist näher als unsere Schlagader`. Daher egal, ob das im Gefängnis hinter Gitter ist, über die Berge, unter dem Meer, Gott ist immer nah bei uns. Unsere Aufgabe ist, das weiterzugeben zu Gefangene. Gott ist barmherzig, die Barmherzigkeit Gottes ist größer als unsere Fehler.“

Als ehrenamtlicher Seelsorger braucht Ahmet Özdemir einen festen Ansprechpartner in der Anstalt, der alles organisiert, die Türen öffnet und schließt. Von Anfang an arbeitet er mit dem evangelischen Gefängnispfarrer Dieter Wever zusammen. Beide sind sich einig: Ein guter Seelsorger, ob christlich oder muslimisch, muss vor allem eines können: zuhören.

Dieter Wever: „Dass er zulassen kann, was ist. Und mit dem Gefangenen sehen kann, was ist. Ohne innere Voreingenommenheit oder Zielsetzung. Es auszuhalten, was Menschen denken, fühlen und gemacht haben.“

Mit Gotteshilfe um Vergebung und Beistand bitten

Eine viertel Stunde später. Wir gehen durch den sogenannten Zentralbereich der Anstalt. Einige Gefangene stehen in einer Schlange, um ihre Wäsche zu tauschen. Andere haben gerade einen Freizeitraum in einen Gebetsraum verwandelt: Tische und Stühle stehen an der Seite, die Gebetsteppiche sind ausgerollt. Dreißig bis vierzig muslimische Gefangene nehmen regelmäßig am Freitagsgebet teil. Einer von ihnen ist der 26 Jahre alte Noah, auf Arabisch Nuh.

„Wir sagen, Freitagsgebet ist Dschuma. Auf Deutsch: eine Gemeinschaft. Und diese Gemeinschaft macht auch stark. Für mich zeigt (sich) das, dass ich nicht der einzige bin, der am Beten ist, sondern wir halten gerade zusammen, beten in eine Richtung, zu einem Gott. Die Stärke ist auf jeden Fall da und motiviert noch ein bisschen.“

Nach dem Gebet werden die meisten Gefangenen zurück in die Zelle gebracht. Nuh bleibt noch da. Er ist in Deutschland aufgewachsen, hat „draußen“ als Kellner gearbeitet. Über fünf Jahre sitzt er nun schon.

Noah: „Also ich sitze wegen einer Tat, die ich nicht für schön heiße, ich habe einen Menschen getötet. Das ist auch ein Grund, warum ich intensiv in meinem Glauben reingekommen bin und versuche auch, um Vergebung zu bitten. Denn ein Mensch hat nicht das Recht, einem Menschen das Leben zu nehmen oder auch über Leben und Tod zu entscheiden. Außer Gott. Gott gibt und nimmt. Das ist auch, was ich gelernt habe.“

Es fällt schwer, sich vorzustellen, dass dieser freundliche, junge Mann jemanden getötet hat. Wie viele andere muslimische Gefangene wusste auch Nuh „draußen“ nicht viel über seine Religion. Erst „drinnen“ hat er zum Glauben gefunden.

„Das ist ein Segen für mich. Wenn ich Hilfe brauche, kann ich meine ganzen Sorgen erzählen. Zwiegespräche zwischen Gott und mir.“

Aber auch die Gespräche mit dem muslimischen Seelsorger bedeuten ihm viel. Manchmal sind es schon kleine Gesten, die zählen.

Noah: „Vor zwei Wochen ist mein Opa gestorben, und ich habe ihn nix davon erzählt. Aber er hat gehört, dass mein Opa gestorben ist, ist zu mir gekommen und hat mir Beileid gewünscht. Und hat mit mir gesprochen, dass ich mir keinen Kopf machen soll, dass es normal ist, wenn jemand von uns geht. Der hat mich auf jeden Fall aufgebaut.“
Auch in der Justizvollzugsanstalt Münster ist es in den vergangen Jahren leichter geworden, als Muslim seinen Glauben zu leben. Man nimmt Rücksicht auf die Speisevorschriften, in der Fastenzeit wird das Essen zur vorgeschriebenen Zeit verteilt, es gibt das Freitagsgebet. Doch das reicht nicht aus – sagen Nuh und der 26 Jahre alte Rahim aus Ghana, der über seine Straftaten nicht sprechen möchte.

Noah: „Mit Herrn Wever kann man über alles reden, er ist ein barmherziger Menschen. Natürlich wünscht man sich auch jemanden, wo man gleich ist, der ist auch meine Religion. Wenn ich Fragen habe über den Islam, der kann auch direkt antworten, was das genau bedeutet. Auf jeden Fall besser wäre, auch einen muslimischen Seelsorger im Gefängnis einzustellen.“

Rahim: „Weil es gibt viele hier, die Glauben wegschmeißen. Die sagen, ja, ich bin im Knast, ich bin sowieso kriminal. Warum soll ich beten? Diese Leute brauchen jemand, der sie motiviert und sagen, dass Allah so gesagt, das heißt nicht das du bist im Knast, du bist verloren. So viele brauchen diese Gespräche, Hoffnung.“

Ahmet Özdemir tut, was er kann. Viele Jahre war er regelmäßig ein, zwei Mal die Woche da. Zur Zeit schafft er es nur, alle drei Wochen zum Freitagsgebet zu kommen und gemeinsam Opferfest und Ramadan zu feiern.

Ahmet Özdemir: „Für Muslime gibt es auch diesen Bedarf, das muss ein Hauptamtlicher geben. Wir haben als Ehrenamtliche begrenzte Möglichkeiten. Zum Beispiel in JVA frei zu bewegen, Gefangenen zu gehen.“

Auch der evangelische Gefängnispfarrer Dieter Wever ist sich bewusst, dass er muslimischen Gläubigen nur begrenzt zur Seite stehen kann.

„Also da, wo die Familiendynamik `ne große Rolle spielt, bin ich einfach immer nur Zuhörer. Dass da also der Vater bestimmt, was Sache ist. Und dass die Brüder bestimmen, was in der Familie gelten soll. Also diese ganzen familientypischen Geschichten sind mir immer ganz fremd.“

Ob Muslim oder Christ, viele Gefangene haben ähnliche Probleme. Oft geht es um die Auseinandersetzung mit der eigenen Schuld. Sie leiden darunter, von der Außenwelt abgeschnitten zu sein, oder sind drogensüchtig. Hinzu kommt:

Dieter Wever: „Viele muslimische Gefangene haben ein strenges Über-Ich. Das heißt, die haben gelernt, was die Religion, was die Familie von ihnen will. Und dann machen sie die Erfahrung, das Gute, was ich tun will, tue ich nicht, sondern das Böse. Diesen inneren Konflikt haben auch die muslimischen Gefangenen, sogar noch viel, viel stärker als christliche Gefangene, weil das, was sie tun sollen, offensichtlich ist.“

Was Seelsorge bei muslimischen Gefangenen bewirken kann, ist schwer messbar. Aus langjähriger Erfahrung wissen Dieter Wever und Ahmet Özdemir: Religion kann einen festen Halt bieten und eine Brücke zur Wiedereingliederung sein.

Ahmet Özdemir: „Einige merkt man schon, dass da bisschen in der richtige Richtung geht. Oder die sagen von sich selber, dass sie früher waren so und jetzt wollen sie neu anfangen. Mit den Familien, mit den anderen gut umgehen. Die zeigen ihre Reue, dass sie Fehler gemacht haben, zum Beispiel.“

Islamische Seelsorge in der Zukunft

Wie viele ehrenamtliche muslimische Seelsorger es gibt, ist nicht bekannt. Und ob es in Zukunft hauptamtliche muslimische Seelsorger geben wird, ist auch noch offen. Ahmet Özdemir, Dieter Wever und auch Maria Look, die Leiterin der JVA Münster, sind überzeugt: Künftig werden noch mehr Justizvollzugsanstalten, in Zusammenarbeit mit den großen muslimischen Verbänden, wie etwa der Türkisch-Islamischen Union der Anstalt für Religion (DITIB), islamische Seelsorge anbieten. Maria Look setzt große Hoffnung auf das Zentrum für Islamische Theologie Münster/Osnabrück.

„Wir haben schon Kontakt geknüpft hier zur Universität, zu dem Professor Khorchide. Er hat gesagt, wenn die ersten Studenten soweit sind, dass die zum Beispiel mal ein Praktikum machen können, würde er es sehr begrüßen, wenn die hier bei uns tätig werden können. Und so glaube ich, dass das eine Sache ist, die im Aufbau begriffen ist und dass sich da was entsprechend entwickeln wird.“

Einige Bundesländer, wie zum Beispiel Hessen oder Niedersachsen, arbeiten bereits mit Vertretern der großen muslimischen Verbände daran, Konzepte zu entwickeln, um muslimische Insassen professionell betreuen zu können. Keine leichte Aufgabe – unter anderem auch, weil ein muslimischer Seelsorger den unterschiedlichen Strömungen im Islam gerecht werden muss. Ob Sunniten, Schiiten oder Alewiten. Auch Ahmet Özdemir und Dieter Wever haben in den vergangenen Jahren viel über islamische Gefangenenseelsorge diskutiert. Zur Zeit promoviert Ahmet Özdemir über dieses Thema.

„Die Seelsorge ist als Begriff noch neu für Muslime. Es gibt inhaltlich in der Geschichte, was wir als Grundstein nehmen können. Und auch von der christlichen Seelsorge kann man was lernen. Was ganz neu ist, ist die engere Seelsorge. Also Beistehen bei den Menschen, Gespräche führen.“

Nuh hat im Gefängnis seinen Hauptschulabschluss nachgeholt und auch den Realschulabschluss gemacht. Er hat sich fest vorgenommen: er möchte sein Leben ändern, wenn er wieder draußen ist.

Noah: „Ich versuche, als Hotelfachmann zu arbeiten. Und ich hoffe, dass ich eine Stelle finde, in `ner Großstadt irgendwie.“

Ahmet Özdemir macht sich auf den Weg nach Hause. Es ist nicht immer einfach, das Vertrauen der Gefangenen zu gewinnen und zu helfen, sagt er. Aber das Engagement lohnt sich. Manchmal trifft er jemanden draußen wieder.

„Beim Bus, beim Bahnhof unterwegs, manchmal sprechen die mich an. Zum Beispiel einer hat schon Fuß gefasst und arbeitet, fährt einer Taxi, der andere arbeitet in einem Geschäft. Das funktioniert. Da sieht man und man freut sich.“

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