Misstrauen gegenüber den Werten der Politik

Rezensiert von Alexander Gauland |
Das fortwährende Gerede von den Werten kann einem schon auf die Nerven gehen, zumal keiner so richtig zu erklären vermag, welche Werte wir am Ende verteidigen sollen. Doch leider tut das auch Eberhard Straub nicht.
Wir hören es oft und meistens gedankenlos: Das Grundgesetz steht für eine wehrhafte und werthafte Demokratie, Europa ist eine Wertegemeinschaft und wir sind mit Amerika verbunden, weil wir dessen Werte teilen.

Man muss nicht gleich wie Eberhard Straub von einer Tyrannei der Werte sprechen, doch auf die Nerven kann einem das fortwährende Gerede von den Werten schon gehen, zumal eben keiner so richtig zu erklären vermag, welche Werte wir am Ende verteidigen sollen. Doch leider tut das auch Straub nicht.

Der Autor kann sich nicht so recht entscheiden, wofür oder wogegen er am Ende zu Felde zieht. Die Reklame des Verlages ist da eindeutiger als der Autor selbst, wenn er von einem scharfsichtigen Essay gegen die Totalökonomisierung des menschlichen Lebens spricht. Nun hat es Straub in vielen seiner Bücher in guter konservativer Manier mit dem Sein statt mit dem Haben. Und auch hier scheint er das Sein, die Würde des Menschen, gegen das Haben von Werten, also die Ökonomisierung des angeblich Idealischen verteidigen zu wollen.

"Der Kampf der Werte um ihr Dasein, mit mannigfachen Nuancierungen unternommen, führte zu einer früher ungeahnten Moralisierung des Marktes, der Politik und der Kriegführung. Moralisierte Auseinandersetzungen gehören stets zu den brutalsten, weil die Gerechtigkeit der eigenen Sache jeden Einsatz rechtfertigt, um sich gegen ungerechte Forderungen eines anderen zu wehren, der nicht weniger von der Gerechtigkeit seiner Ziele und Zwecke überzeugt ist. Dabei ist es dann unvermeidlich, dass Polemiken um Wert und Unwert aufeinander prallen."

Doch dabei wird nie deutlich, was die Alternativen wären und welche Lebensform in der Vergangenheit seinem Ideal am nächsten kommt. An ehesten ist es für Straub wohl der freie aristokratische Übermensch Nietzsches und der französischen Moralisten, der noch Würde statt ideologischer und ökonomischer Werte hat. Und in den internationalen Beziehungen gehört seine Sympathie der Epoche der Realpolitik zwischen dem Westfälischen Frieden und dessen später Überwindung durch Bismarck.

Doch eben damit gerät seine Wertedefinition vollends aus den Fugen und verliert zudem ihre ökonomische Anbindung. Denn weder die Glaubenskrieger zuvor noch der jakobinische Revolutionsexport nach 1789 hatten viel mit Werten im Sinne von ökonomischen Interessen zu tun. Vielmehr waren Werte hier nicht nur Vorwand, sondern Kern der Auseinandersetzung.

"Die Moralisierung des Politischen und damit auch wieder des Krieges setzte mit der Revolution ein. Sie kämpfte für einen neuen Staat, eine neue Gesellschaft und damit für einen neuen Menschen... Darüber kehrte auch der gerechte Krieg zurück und die Kriminalisierung des Feindes. Denn wer dem Gerechten den Weg vertritt, kann nur ein Ungerechter sein, der abgewehrt und bestraft gehört. Britischen Liberalen war solch missionarischer Eifer seit dem frühen 19. Jahrhundert nicht fremd. Sie unterstützten in Europa und Südamerika nicht konsequent, aber wo es ihren Interessen nützte, Freiheitsrevolten und Verfassungsbewegungen, ihr britisches Modell und ihren Way of Life als Inbegriff der Zivilisation und der Verschmelzung von Humanität und Fortschritt zur Nachahmung anbietend. Am britischen Wesen sollte die Welt genesen. Großbritannien verstand sich gleichsam als der Vorsitzende beim Jüngsten Gericht, der über Gerechte und Ungerechte ein unfehlbares Urteil fällte."

Die Skepsis Straubs gegenüber einer ideologischen Verbrämung von ökonomischen Interessen macht ihn leider blind dafür, dass diese Art von ideologischer Vorwärtsverteidigung nicht erst mit dem Kapitalismus und dem nun zu Ende gehenden amerikanischen Jahrhundert einsetzt. Schon die Schöpfer der Heiligen Allianz, also der russische Zar Alexander I. und der europäische Aristokrat Metternich bemühten die Werte der Ordnung, der Heiligkeit von Verträgen und Kronen und des monarchischen Absolutismus zur Sicherung der in Wien wiederhergestellten aristokratischen alteuropäischen Ordnung. Und da ist die Heilige Allianz ganz nahe bei dem anglo-amerikanischen, westlichen Versuch, Markt- und Menschenrechte absolut zu setzen und eine von Menschen gemachte und folglich interessengeleitete Ordnung unter göttlichen, heute menschheitlichen und humanistischen Schutz zu stellen.

"Die amerikanische Mission über Globalisierung, Demokratisierung Universalisierung ihrer Mode, Musik, Filme und Sprache, die Amerikanisierung der Welt zum Wohle der Vereinigten Staaten und der Menschheit zu vollenden, bedarf einer interesselosen Verkleidung. Dafür werden die Werte herangezogen, die als zeitlose, schon immer vorhandene Wesenheiten dem Menschen zur Einsicht in seine Bestimmung verhelfen und mit reiner Humanität die Unterschiede in den Religionen oder Weltanschauungen überwinden. Über diesen Umweg können die Verfechter westlicher Werte eben zum Dolmetscher für die gesamte Menschheit werden und sich selbst zum wahren Menschen erklären, der berechtigt ist, die anderen zu mahnen, zu erziehen oder zu bestrafen."

Cover "Die Tyrannei der Werte"Letztlich ist das eine wie das andere Ideologie. Dass der Autor den Balken im westlichen Auge bemerkt, die vielen Splitter in den Augen der unterschiedlichsten Interessenwahrer zu allen Zeiten aber übersieht, macht sein Plädoyer gegen die Werte angreifbar. Denn schon immer wurden in der Geschichte Werte zur Verteidigung der jeweiligen Ordnung ins Feld geführt, seien es nun das christliche Abendland, der monarchische Absolutismus oder Menschenrechte und Marktfreiheit.

Und immer waren die Verteidiger davon überzeugt, dass sie nicht nur subjektiv im Recht waren, sondern auch objektiv im Einklang mit der göttlichen Weltordnung standen. Schließlich wurden die Interventionen der Heiligen Allianz in Spanien und Italien kaum anders gerechtfertigt als der anglo-amerikanische Einmarsch in den Irak.

Straub hat recht, wenn er den Werten in der Politik misstraut. Er hat unrecht, wenn sein Misstrauen nur die jüngste Zeit umfasst. Die angebliche Tyrannei der Werte hat eine ziemlich lange Geschichte.

Eberhard Straub: Zur Tyrannei der Werte
Klett-Cotta, Stuttgart 2010
Cover "Zur Tyrannei der Werte" von Eberhard Straub
Cover "Zur Tyrannei der Werte" von Eberhard Straub© Klett-Cotta