Missbrauch von Schmerzmitteln

Amerikas stille Drogensucht

Protest gegen die Pharmaindustrie - immer mehr Menschen in den USA sterben an Schmerzmittelmissbrauch
Protest gegen die Pharmaindustrie - immer mehr Menschen in den USA sterben an Schmerzmittelmissbrauch © imago stock&people
Von Nora Sobich · 08.05.2017
Immer mehr junge Leute sterben in den USA an den Folgen von Drogenmissbrauch - mehr als zu Zeiten der großen Crack-Krise. Schuld daran sind hochgradig süchtig machende Schmerzmittel. Sie berauschen ähnlich wie Heroin - und werden bedenkenlos verschrieben.
In Neuengland ist Land unter: Ein Trödelhändler im Ostküstenstädtchen Gloucester schlägt die Hände über dem Kopf zusammen. Die Opioid-Krise zerstöre das Land. Eine junge Frau mit dreijährigem Sohn im Buggy hat zu der Krise, die Amerika derzeit wie kein anderes soziales Thema alarmiert, nur einen einzigen Satz zu sagen: "Alle meine Freunde sterben." Dann verschwindet sie hinter einem trostlos leeren Supermarktparkplatz.
In den USA sterben jeden Tag 79 Menschen an einer Opioid-Überdosis. So viele wie nie zuvor. Zwanzig Mal mehr als zu härtesten Crackzeiten. In Kleinstädten wird so oft die Notrufnummer gewählt, dass Ambulanzen schon nicht mehr hinterherkommen und Polizei und Feuerwehr mit einspringen müssen, um Leben zu retten. Der Bundesstaat Maryland hat jetzt im März den Ausnahmezustand ausgerufen. Den Opfern dieser Drogenkrise soll schneller geholfen werden.

Schmerzmittel als Einstiegsdroge

Es gibt kaum noch eine Gemeinde in den USA, die von der grassierenden Heroin- und Schmerzmittel-Epidemie nicht betroffen ist. Schmerztabletten, die hochgradig süchtig machende Opioide wie Oxycodon oder Hydrocodon enthalten und in den USA wie Candies verschrieben werden, sind heute für weiße Amerikaner zwischen 18 und 30 Jahren die führende Einstiegsdroge.
Sie lösen einen ähnlichen Rausch aus wie Heroin.
Wer eine Krankenversicherung besitzt, die die Rezeptkosten trägt, macht die Pillen zu Cash und wechselt zu Heroin, das spottbillig aus Mexiko kommt. Es überschwemmt Amerikas Hinterland, Kleinstädte und Vororte. Inzwischen wird es, um den High zu verstärken, mit der synthetischen Droge Fentanyl gestreckt. Die ist 100 Mal stärker als Morphium.

Die Droge breitet sich aus

Keiner wüsste noch, was er einnimmt, wie viel des lebensgefährlich starken Fentanyls im Heroin sei, sagt eine Passantin auf der Hauptstraße von Gloucester, wo die Opioid-Krise nicht mehr zu übersehen ist: Der Stoff sei einfach überall zu haben. In Sommerfrischen wie Manchester-by-the-Sea genauso, wie in den alten vergammelten Industriestädten Lovell und Lawrence.
"Wir verlieren mehr Menschen, als wir je verloren haben", sagt Joanne Peterson, die in Massachusetts die Selbsthilfeorganisation "Learn to Cope" betreibt, und die Beerdigungen, denen sie in den letzten Jahren beigewohnt hat, schon nicht mehr zählen kann.

Steigende Sterblichkeitsrate

Junge weiße Amerikaner und Amerikanerinnen sind heute die einzige Bevölkerungsgruppe in der westlichen Welt, bei der die Sterblichkeitsrate nicht ab- sondern zunimmt. Dafür verantwortlich, so die Ökonomen Anne Case und Angus Deaton, sei eine schwindelerregend schlechte Lebensperspektive: Stichwort "Globalisierung und rasender sozialer Wandel". Und allen voran die "Opioid Crisis".
Eine Mutter hält das Bild ihres Sohnes, der im Zuge der "Opioid-Krise" ums Leben gekommen ist
Eine Mutter hält das Bild ihres Sohnes, der im Zuge der "Opioid-Krise" ums Leben gekommen ist© imago stock&people
Die Generation, die mit Fentanyl den ultimativ betäubenden Painkiller-Kick sucht, ist auch die Generation, die mit Schmerzmitteln gleichsam aufwachsen musste. Bereits Ende der Achtziger hat in den USA eine verantwortungslose Pharmaindustrie mit gesponserten Forschungsgutachten eine sogenannte "Revolution" in der Schmerzbehandlung dirigiert.

Ein ganzes Land auf Schmerztablette

Schnell mal eine Tablette einzuwerfen, sagt eine Bostoner Ärztin, die namentlich nicht genannt werden möchte, sei zum Reflex geworden. Die "instant gratification", augenblickliche Befriedigung, ein selbstverständlicher Anspruch. Schmerztabletten seien eben auch bequem. Man hätte eine schnelle Linderung, bräuchte keine Physiotherapie, Ultraschall oder eine Operation, so die Ärztin.
In den USA wird die Zahl der Langzeiteinnehmer von Opioiden heute auf 20 Millionen Menschen geschätzt.
Schon zu Highschool-Zeiten wird Jugendlichen ganz routinemäßig nach Weisheitszahnoperationen oder bei kleinen Sportunfällen ein Opioid-Schmerzmittel verschrieben: Nicht etwa nur zwei, drei Tabletten, sondern immer gleich die monatliche Vorratspackung. Die Goldmine dieser fatalen Überverschreibungspraxis, die Amerika im wahrsten Sinne des Wortes zu einem Land der Opioide gemacht hat, ist das Schmerzmittel OxyContin, das heute als zentraler Katastrophenverursacher gilt.

Widerstand der Pharmakonzerne

Das Abhängigkeitsrisiko von OxyContin wurde bei Markteinführung 1996 wegen einer innovativen zeitverzögerten Wirkungsformel als unbedenklich eingestuft. Schon Anfang 2000 war es eines der meistmissbrauchten Medikamente Amerikas.
Die Rezeptpille, die innerhalb von zehn Jahren dem Pharmakonzern "Purdue Pharma" aus Connecticut unglaubliche dreißig Milliarden Dollar Umsatz eingespielt hatte, avancierte in kürzester Zeit zur führenden Straßendroge. Denn die Pillen ließen sich zerkleinert spritzen oder schniefen wie Heroin. Zwischen 1999 bis 2014 starben in den USA über 190.000 Menschen an einer Schmerzmittel-Überdosis, mehr noch als an Heroin.
Schockiert von den alarmierenden Todeszahlen und dem menschlichen Leid, das die Opioide vor allem in den alten Bergbauregionen in Kentucky und West-Virginia angerichtet haben, führen die ersten Bundesstaaten nun Patienten- und Rezept-Datenbänke ein, strengere Verschreibungs-Richtlinien. Die Lobbyisten-Netzwerke der US-Pharmaindustrie sind allerdings so eng gesponnen, dass sich effektive Maßnahmen zur Verhinderung von Überdosierung und Missbrauch kaum durchsetzen lassen.

Kriminalisierung der Opfer

Amerikas neuer Präsident, der im Wahlkampf noch gegen das Big-Business vorzugehen versprach, macht für die Katastrophe jetzt lieber den Heroinschmuggel aus Mexiko verantwortlich. Es ist bereits von verstärkter Strafverfolgung die Rede.
Die vielen Opioid-Opfer zu kriminalisieren, kann jedenfalls keine Alternative sein. Es wäre ungefähr das Letzte, was das Land jetzt noch "great" machen könnte.
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