Missbrauch der historischen Vernunft
Alle historischen Begriffe, Theorien und Kategorien, dienen der Legitimation gegenwärtiger Weltanschauungen, so die These Rudolf Burgers. In seinem neu erschienen Werk "Im Namen der Geschichte" weist der Philosoph auf die Gefahr hin, die von jenen ausgeht, die sich ausschließlich auf die Geschichte und die hieraus gewonnenen Erkenntnisse berufen.
Einen Wechsel in Herkunftsverständnis und Geschichtsdeutung einleiten zu wollen, ist eine Herkulestat. Dazu braucht es aber mutige Flurbereiniger, die keine Scheu davor haben, einer fest im Sattel sitzenden Deutungselite den Fehdehandschuh hinzuwerfen und sie aus lieb gewordenen Zurechtlegungen und Sprachspielen aufzustöbern.
Ein solcher Flurbereiniger ist ohne Zweifel Rudolf Burger, der seinen akademischen Lebensweg anfänglich in den strengen Naturwissenschaften zubrachte. Von da aus ging sein Weg zu Geistesgeschichte und Politischer Philosophie. Das prädestiniert ihn, sich - im Namen der Geschichte - mit jener Deutungselite anzulegen, die aus einer unseligen Vergangenheitsperiode eine bestimmte nationale Moral durchsetzen, sichern und aufrecht erhalten will, und das auch darf. Rudolf Burger wirft ihr Missbrauch der historischen Vernunft vor und sieht die Vergangenheitsdiskurse und Historikerstreitigkeiten längst in eine Kulturindustrie abgeglitten. Ihren besonderen Einschüchterungscharakter bezieht sie daraus, dass sie sich als unwidersprechbaren Bezugspunkt verankert und gegenüber Angriffen von außen immunisiert.
"Wir haben eine Vergangenheit, aber wir geben uns eine Geschichte. Und wir geben sie uns im Lichte eines Entwurfs - eines Entwurfs dessen, was wir sein und werden wollen; das hängt davon ab, wer wir gewesen sind. Nicht die Vergangenheit legt uns fest und definiert uns, sondern indem wir der Vergangenheit, die wir haben, eine Bedeutung verleihen, die sie von sich aus niemals hat."
Doch mit dieser Feststellung beginnt das Abenteuer und wir, die das 20. Jahrhundert glücklich überstanden haben, wissen am besten, was damit gemeint ist. Diese Geschichtsarbeit sucht nach Wegen ins Freie, in bessere Verhältnisse und gerät in jedem Jahrhundert mehrmals ins Desaster. Besonders der aus dem Religiösen stammende Hang zum Absoluten und Reinen schlägt ganzen Generationen zum Unglück aus:
"Wir wissen heute, oder könnten es wissen: Alle großen Verbrechen entspringen großen Idealen, nicht dem bösen Willen. Die fürchterlichsten Massaker werden niemals von Skeptikern oder Nihilisten verübt, sondern von Gläubigen und Utopisten, im Namen von mächtigen Idealen."
Rudolf Burger ist sich dessen gewiss: Die Geschichte in ihrer "ontologischen Würde" gibt dem Menschen Sinn und Halt. Wer sie angreift, stellt auch das innerste Wesen des Menschseins infrage und muss mit dem Zorn von Gläubigen rechnen. Burger bezweifelt die Existenz eines "kollektiven Gedächtnisses" oder einer "kollektiven Erinnerung":
"Dass diese magisch aufgeladenen Metaphern heute ideologische Konjunktur haben, steht in engstem funktionalen Zusammenhang mit dem, was man seit 1945 'Vergangenheitsbewältigung' nennt zu therapeutischen Zwecken. Sie dienen nämlich als semantisches Material für eine Vergangenheitspolitik, die sich als Heilspädagogik ausgibt und aus einer trüben Symbiose Freudscher und Jungscher Psychoanalyse besteht. Tatsächlich aber ist die kathartische, die komplexlösende Wirkung des 'Erinnerns und Durcharbeitens’ nicht nur klinisch nicht erwiesen, sondern es ist das Gegenteil richtig: Der permanent Erinnernde wird an das Erinnerte fixiert. Eben diese Fixierung ist freilich auch das wahre Motiv des Erinnerungsgebots, denn sie macht es möglich, aus dem vergangenen Unheil endlos moralisches Kapital zu schlagen."
Es gehört im Deutschland des Nachkriegs und der Wiedervereinigung zum Standard öffentlicher Moral, das Grauen des Nationalsozialismus als Drama und als Erinnerungsritual zu vergegenwärtigen. Die Teilnahme daran sei ein Schutz vor seiner realen Wiederkehr. Wer das nicht tut, hat "aus der Geschichte nichts gelernt". Doch diese Forderung stößt an Voraussetzungen, die sich in der dynamischen Neuzeit nicht mehr auffinden lassen.
Die nächste unüberwindliche Schwierigkeit liegt im Geschichtsbegriff selbst. Ist damit das Geschehene gemeint, oder der Bericht über das Geschehene? Das eine kann ohne das andere nicht sein. Die moderne Geschichtsschreibung kennt keinen Erkenntnisstillstand, auf dem ein Lehrgebäude errichtet werden könnte. Neue Forschungsergebnisse entwerten zwar die alten; aber mehr Wissen führt nicht automatisch zu mehr Verständnis von historischen Sachverhalten.
So steht Geschichtspolitik auf schwankendem Boden und produziert in keinem Fall eine moralische Instanz, die über Menschen urteilen oder richten darf. Rudolf Burgers Scharfsinn und Argumentationswege könnten helfen, eine Meinungsfreiheit zu schützen, die von intellektuellen Anmaßungen bedroht ist.
Rudolf Burger: Im Namen der Geschichte
Vom Missbrauch der historischen Vernunft
Verlag "Zu Klampen", Springe 2007
Ein solcher Flurbereiniger ist ohne Zweifel Rudolf Burger, der seinen akademischen Lebensweg anfänglich in den strengen Naturwissenschaften zubrachte. Von da aus ging sein Weg zu Geistesgeschichte und Politischer Philosophie. Das prädestiniert ihn, sich - im Namen der Geschichte - mit jener Deutungselite anzulegen, die aus einer unseligen Vergangenheitsperiode eine bestimmte nationale Moral durchsetzen, sichern und aufrecht erhalten will, und das auch darf. Rudolf Burger wirft ihr Missbrauch der historischen Vernunft vor und sieht die Vergangenheitsdiskurse und Historikerstreitigkeiten längst in eine Kulturindustrie abgeglitten. Ihren besonderen Einschüchterungscharakter bezieht sie daraus, dass sie sich als unwidersprechbaren Bezugspunkt verankert und gegenüber Angriffen von außen immunisiert.
"Wir haben eine Vergangenheit, aber wir geben uns eine Geschichte. Und wir geben sie uns im Lichte eines Entwurfs - eines Entwurfs dessen, was wir sein und werden wollen; das hängt davon ab, wer wir gewesen sind. Nicht die Vergangenheit legt uns fest und definiert uns, sondern indem wir der Vergangenheit, die wir haben, eine Bedeutung verleihen, die sie von sich aus niemals hat."
Doch mit dieser Feststellung beginnt das Abenteuer und wir, die das 20. Jahrhundert glücklich überstanden haben, wissen am besten, was damit gemeint ist. Diese Geschichtsarbeit sucht nach Wegen ins Freie, in bessere Verhältnisse und gerät in jedem Jahrhundert mehrmals ins Desaster. Besonders der aus dem Religiösen stammende Hang zum Absoluten und Reinen schlägt ganzen Generationen zum Unglück aus:
"Wir wissen heute, oder könnten es wissen: Alle großen Verbrechen entspringen großen Idealen, nicht dem bösen Willen. Die fürchterlichsten Massaker werden niemals von Skeptikern oder Nihilisten verübt, sondern von Gläubigen und Utopisten, im Namen von mächtigen Idealen."
Rudolf Burger ist sich dessen gewiss: Die Geschichte in ihrer "ontologischen Würde" gibt dem Menschen Sinn und Halt. Wer sie angreift, stellt auch das innerste Wesen des Menschseins infrage und muss mit dem Zorn von Gläubigen rechnen. Burger bezweifelt die Existenz eines "kollektiven Gedächtnisses" oder einer "kollektiven Erinnerung":
"Dass diese magisch aufgeladenen Metaphern heute ideologische Konjunktur haben, steht in engstem funktionalen Zusammenhang mit dem, was man seit 1945 'Vergangenheitsbewältigung' nennt zu therapeutischen Zwecken. Sie dienen nämlich als semantisches Material für eine Vergangenheitspolitik, die sich als Heilspädagogik ausgibt und aus einer trüben Symbiose Freudscher und Jungscher Psychoanalyse besteht. Tatsächlich aber ist die kathartische, die komplexlösende Wirkung des 'Erinnerns und Durcharbeitens’ nicht nur klinisch nicht erwiesen, sondern es ist das Gegenteil richtig: Der permanent Erinnernde wird an das Erinnerte fixiert. Eben diese Fixierung ist freilich auch das wahre Motiv des Erinnerungsgebots, denn sie macht es möglich, aus dem vergangenen Unheil endlos moralisches Kapital zu schlagen."
Es gehört im Deutschland des Nachkriegs und der Wiedervereinigung zum Standard öffentlicher Moral, das Grauen des Nationalsozialismus als Drama und als Erinnerungsritual zu vergegenwärtigen. Die Teilnahme daran sei ein Schutz vor seiner realen Wiederkehr. Wer das nicht tut, hat "aus der Geschichte nichts gelernt". Doch diese Forderung stößt an Voraussetzungen, die sich in der dynamischen Neuzeit nicht mehr auffinden lassen.
Die nächste unüberwindliche Schwierigkeit liegt im Geschichtsbegriff selbst. Ist damit das Geschehene gemeint, oder der Bericht über das Geschehene? Das eine kann ohne das andere nicht sein. Die moderne Geschichtsschreibung kennt keinen Erkenntnisstillstand, auf dem ein Lehrgebäude errichtet werden könnte. Neue Forschungsergebnisse entwerten zwar die alten; aber mehr Wissen führt nicht automatisch zu mehr Verständnis von historischen Sachverhalten.
So steht Geschichtspolitik auf schwankendem Boden und produziert in keinem Fall eine moralische Instanz, die über Menschen urteilen oder richten darf. Rudolf Burgers Scharfsinn und Argumentationswege könnten helfen, eine Meinungsfreiheit zu schützen, die von intellektuellen Anmaßungen bedroht ist.
Rudolf Burger: Im Namen der Geschichte
Vom Missbrauch der historischen Vernunft
Verlag "Zu Klampen", Springe 2007