Mircea Cărtărescu: „Melancolia“

Einsamkeit der Schmetterlinge

Buchcover von Mircea Cartarescus "Melancolia".
© Hanser

Mircea Cărtărescu

Ernest Wichner

MelancoliaZsolnay, Wien 2022

269 Seiten

25,00 Euro

Von Carsten Hueck · 05.12.2022
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Schemenhafte Eltern, alleingelassene Kinder: Der rumänische Autor Mircea Cărtărescu wandelt zwischen fluiden Identitäten und magischen Räumen. Seine neuen Erzählungen sind ein labyrinthisches Panorama der Einsamkeit.
Franz Kafka hätte ihn geliebt – das möge als Empfehlung oder als Warnung verstanden werden. In jedem Fall aber sind die neuen Erzählungen des rumänischen Autors Mircea Cărtărescu brauchbares Werkzeug, um ein gefrorenes Meer aufzubrechen. Was da zum Vorschein kommt, ist obszön und berührend zugleich. Es schreckt, macht traurig, fesselt die Aufmerksamkeit und erweitert den Blick. Die Bilderwelt des 66-Jährigen erinnert an Märchen oder „Matrix“, an Comics von Enki Bilal oder Gemälde von Hieronymus Bosch.

Verlassene Kinder

Die Figuren leben in atmosphärisch dichten, suggestiven Welten, irgendwo zwischen Realität und Traum, angefüllt mit mittelalterlichen, unterirdischen, zauberhaften und dystopischen Interieurs. Cărtărescu schafft poetische Räume, ein erzählerisches Universum, so bedrohlich wie faszinierend, mit Gefängnissen, Geheimgängen, Krypten, Hallen und Hochhäusern, Geistern und Insekten.
Prolog und Epilog rahmen drei Erzählungen, in denen Kinder und Jugendliche die Hauptpersonen sind. Verletzlich, unsicher und ausgesetzt sind sie. Die Welt mit den Augen eines Kindes zu sehen, das, sagte der Autor einmal, sei für ihn Poesie. Nicht zu verwechseln mit Naivität. Was Cărtărescus Protagonisten erleben, ist mystisch aufgeladen und postmodern erzählt. Identitäten verschwimmen, die Schauplätze wechseln, in verändertem Kontext wiederholen sich Motive, manchmal selbst Formulierungen. In allen Erzählungen geht es um unsichere Identität, Verwandlung, Spiegelbilder und radikale Einsamkeit.

Mutter mit Schokoladenhaut

In der ersten, „Stege“, lebt ein namenloses Kind allein in einer Wohnung. Seine Mutter ist eines Tages nicht vom Einkaufen wiedergekommen, und so harrt es über Tage, Monate, Jahre hinweg wohl oder übel aus. Erkundet die Einrichtung der Räume, nimmt wahr, was es zuvor nie beachtet hatte, den Lichteinfall, die Nippesfiguren auf dem Regal. Es spielt mit einem Pferdchen aus Leinen, einem Clown namens Hubert und einer Katze mit Menschengesicht.

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Irgendwann entdeckt das Kind Stege, einer führt vom Balkon in eine Kautschukfabrik, wo es die Leiche seines Vaters findet. Ein anderer in ein Kaufhaus, wo der Körper seiner Mutter, aus Schokolade, in buntes Stanniolpapier gehüllt, das gesamte Erdgeschoß ausfüllt und das Kind sich hungrig in sie hineinfrisst. „Im Schlaf träumte er. Im Traum lebte er. Worin bestand der Unterschied? Hatte er geträumt oder gelebt in Mutters Bauch?“

Fantastische Literatur

In der Erzählung „Die Füchse“ spielt das Geschwisterpaar Marcel und Isabel vor dem Einschlafen mit imaginierten Füchsen. Eines Tages aber wird Isabel tatsächlich von einem Fuchs entführt und kämpft um ihr Leben. Ihr älterer Bruder opfert sich, indem er die Einsamkeit des Fuchses, der wie ein verstorbener Bruder erscheint, übernimmt und in die „Gefilde ewiger Eiszeiten“ zurückkehrt.
Cărtărescu kennt die fantastische, romantische und moderne Literatur. Er schafft einen erzählerischen Kosmos, in dem Naturwissenschaft, Mystik und Literatur nahtlos miteinander verschmelzen und die Grenzen von Geografie und Zeit und Vorstellungskraft wie selbstverständlich aufgehoben werden. Wer diesen grandiosen Erzähler nicht kennt, kann ihn mit „Melancolia“ entdecken – und so die Welt neu sehen.
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