Hilfe für minderjährige Flüchtlinge

Vorbereitung auf die Vormundschaft

05:38 Minuten
Eine Gruppe unbegleiteter Kinder tragen Schutzmasken und sind durch das Fenster eines Busses zu sehen.
Unbegleitete, minderjährige Jugendliche kommen jeden Tag in Deutschland an. Oft haben sie keinen Kontakt mehr zu ihrer Familie. Der Verein "akinda" hilft dabei, für sie einen Vormund zu finden. © picture alliance /dpa / Angelos Tzortzinis
Von Luise Sammann  · 20.06.2022
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Seit mehr als 20 Jahren schult der Berliner Verein "akinda" Vormunde für unbegleitete, minderjährige Geflüchtete. Auch aus der Ukraine sind jetzt viele junge Leute gekommen, die ihre Eltern verloren haben oder allein auf die Flucht geschickt wurden.
Die 16-jährige Tanja streckt erschöpft Arme und Beine aus, als sie an einem sonnigen Vormittag am Berliner Hauptbahnhof aus dem Zug steigt. Zwei Tage zuvor hat sie sich mit ihrer kleinen Schwester im ukrainischen Lviv auf den Weg nach Deutschland gemacht.
"Wir waren eineinhalb Tage unterwegs", erzählt sie. "Von der polnischen Grenze aus haben uns Freiwillige zum Zug gebracht und wir sind nach Berlin gekommen." Ihre Eltern sind in der Ukraine geblieben. "Mein Vater kämpft dort als Soldat."

Tanja greift zum Smartphone, das ihr an einer langen Kordel um den Hals hängt. „Angekommen“, tippt sie mit schnellen Fingern. In Sekundenschnelle kommt die Antwort der Mutter: ein Kussmund. Tanja lächelt erschöpft.
"Zu Hause mussten wir die ganze Zeit zwischen der Wohnung und dem Luftschutzkeller hin und her rennen", sagt sie. "Das war psychisch sehr anstrengend. Viele Eltern, die in der Ukraine bleiben, versuchen deswegen ihre Kinder aus dem Land zu bringen."
Eine in Deutschland lebende Tante wird die Vormundschaft für die minderjährigen Schwestern übernehmen, solange sie von ihren Eltern getrennt sind.

Suche nach dem passenden Vormund

 „Glück gehabt“, sagt der Jurist Ronni Reimann. Denn für mehr als 80 Prozent der minderjährigen Geflüchteten in Berlin übernimmt das Jugendamt die Vormundschaft. "Ein Amtsvormund muss kraft Gesetzes bis zu 50 Mündel vertreten", so Reimann. Angesichts dieser hohen Zahl fehle oft die Zeit, um eine persönliche Beziehung aufzubauen.
 
Dabei wäre genau das für die allein geflüchteten Kinder und Jugendlichen aus Syrien, Afghanistan oder der Ukraine wichtig. Reimann schult deshalb in seinem Verein "akinda" ehrenamtliche Kräfte, die eine Vormundschaft übernehmen. Sie begleiten Minderjährige zur Ausländerbehörde, hören zu und helfen dabei, die Schullaufbahn zu planen.
Der Berliner Senat hat kürzlich die Finanzierung des Projekts aufgestockt, den "akindas" Arbeit ist wichtiger denn je. Jeden Tag kommen im Schnitt 13 unbegleitete Minderjährige aus der Ukraine in Berlin an und der Verein sucht für sie freiwillige Vormunde.

Vor einem Jahr wurde das "Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung, Versöhnung" in Berlin eröffnet. Dem Start waren lange Streitigkeiten vorausgegangen, denn es gab vor allem in Polen die Sorge, das neue Museum könnte sich zu einseitig auf das Schicksal der deutschen Vertriebenen fokussieren. Seit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine weht vor dem Dokumentationszentrum demonstrativ die ukrainische Flagge.

Die Direktorin Gundula Bavendamm schildert die große Bedeutung des Gegenwartsbezugs für den Lern- und Erinnerungsort. "Diese Balance zwischen dem Historischen und dem Heutigen, das ist es, was das Haus interessant macht."

Reimann fährt seinen Computer hoch, schaltet die Kamera ein. Auf dem Bildschirm tauchen die Videobilder von 30 Frauen und Männern auf: Angehende Rentner, zwei Lehrerinnen, eine Anwältin, Sozialarbeiter und Psychologinnen, alles Freiwillige, die sich bei "akinda" engagieren wollen. Der Ukraine-Krieg habe eine große Bereitschaft ausgelöst, mitzumachen, sagt Reimann. "Gleich in den ersten Kriegstagen haben sich bei uns viele Ehrenamtliche gemeldet."

Vorbereitung auf die Vormundschaft

Eine von ihnen ist Iryina Perfilova, selbst gebürtige Ukrainerin. Leicht verpixelt winkt sie in die Kamera. Warum sie sich bei Akinda gemeldet hat? "Ich bin Single, kinderlos und 37 Jahre alt", sagt sie. "Ich stehe schon fest im Leben, und dann kommt die Idee, ich kann was leisten, ich kann behilflich sein."
Perfilova ist Psychologin und hatte zunächst die Idee, ein Kind zu adoptieren. Nun will sie sich zunächst in dieser Rolle als Vormund auszuprobieren.

18 Uhr. Es geht los. „Asyl- und Aufenthaltsrecht“ steht heute auf dem Stundenplan. Zwei Stunden lang lernen die Ehrenamtlichen Paragrafen kennen, besprechen Fallbeispiele und fragen nach. An zehn Terminen bereitet das "Akinda"-Team sie auf ihren Einsatz als Vormunde vor. Neben rechtlichen Fragen beschäftige die meisten Ehrenamtlichen die Frage nach der menschlichen Herausforderung, ist Reimanns Erfahrung.
Die minderjährigen Geflüchteten leben zwar meistens in betreuten Jugendeinrichtungen, sollen aber in ihren Vormunden eine möglichst enge Bezugsperson finden.

Unterstützung in der Pubertät

Wer aus der Ukraine komme, habe eine kurze Flucht hinter sich, sagt Reimann. Geflüchtete aus Afghanistan oder Syrien seien dagegen oft sehr lange unterwegs gewesen, hätten auf der Flucht in sehr prekären Umständen gelebt und häufig den Kontakt zu ihrer Familie verloren.
"Sie bringen einen Rucksack mit mit Dingen, die sich auch sehr belastend auswirken können", so Reimann. Die meisten steckten mitten in der Pubertät und seien zwischen 14 und 16 Jahre alt. "Ich hab dann mit jemandem zu tun, der gerade in einer ganz wichtigen Phase seiner Entwicklung steckt, und das ist für viele Vormunde auch immer wieder eine Herausforderung."

Psychologin Perfilova freut sich auf diese Aufgabe. Ihre Schulung bei "akinda" hat sie inzwischen abgeschlossen. Nun wird sie der Verein mit einem ukrainischen Jungen oder Mädchen zusammenbringen, den oder die Irina im besten Fall bis zur Volljährigkeit in Deutschland begleitet.

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