Minderheitsregierung

Auch ohne Haushaltsgesetz handlungsfähig

Merkel und andere Abgeordnete stehen mit ihren Abstimmungskärtchen an der Wahlurne.
Im Falle einer Minderheitsregierung müsste Kanzlerin Merkel für jedes Vorhaben erst eine Mehrheit im Bundestag gewinnen. © Wolfgang Kumm / dpa
Thomas Puhl im Gespräch mit Dieter Kassel |
Was, wenn eine Minderheitsregierung ihren Haushalt nicht durch das Parlament bringt? Der Jurist Thomas Puhl beruhigt: Anders als in den USA gebe es in Deutschland keinen Haushaltsnotstand, bei dem Hunderttausende Angestellte auf der Straße säßen. Dafür sorge das Grundgesetz.
Dieter Kassel: Theoretisch gibt es in der Bundespolitik gerade vier Möglichkeiten. Die unwahrscheinlichste und sicherlich auch am wenigsten sinnvolle wäre, erneut über Jamaika zu verhandeln, alternativ käme eine Koalition aus SPD und CDU/CSU infrage, die aber gerade wieder etwas unwahrscheinlicher geworden ist durch die Glyphosat-Abstimmung, Neuwahlen wären eine Möglichkeit oder eben auch eine Minderheitsregierung. Welche Möglichkeiten die böte, darüber wollen wir jetzt mit Professor Thomas Puhl reden, er ist Inhaber des Lehrstuhls für öffentliches Recht, Finanz- und Steuerrecht an der Universität Mannheim und beschäftigt sich seit über 30 Jahren schon mit dem Thema Minderheitsregierungen. Herr Puhl, schönen guten Morgen!
Thomas Puhl: Guten Morgen, Herr Kassel!
Kassel: Wenn man sich so lange damit beschäftigt, muss einen dieses Thema ja auch ein bisschen faszinieren als Jurist. Die Vorstellung, dass es jetzt eine Minderheitsregierung geben könnte auf Bundesebene, ist das für Sie auch eine faszinierende Vorstellung oder macht Ihnen der Gedanke eher Sorgen?

"Eine Minderheitsregierung ist keine Katastrophe"

Puhl: Na ja, für den Wissenschaftler ist das ganz hübsch, so ein Experiment mal zu erleben. Aber schöner ist natürlich eine stabile Regierung, die sich auf ein Parlament stützen kann, was auch die Gesetze macht, die die Regierung braucht, wenn sie kraftvoll regieren will. Also eine Reform in irgendeinem Thema, Renten, Steuern, Soli, ich weiß nicht was, kriegen sie nicht gebacken, ohne dass das Parlament eben mitspielt. Und insofern, stabiler ist ganz sicher eine Mehrheitsregierung, aktionsfähiger, aber auch eine Minderheitsregierung ist nicht handlungsunfähig, das ist keine Katastrophe.
Kassel: Was könnte denn eine Minderheitsregierung tun?
Puhl: Na, eine Minderheitsregierung, zunächst mal, kann für jedes Einzelthema Verhandlungen führen und sich versuchen, in der Sache mit wechselnden Mehrheiten die Instrumente zu besorgen, also die Gesetze zu besorgen, die sie braucht, um ihre Vorstellungen durchsetzen zu können. Das ist nicht schlecht und im Ausland hat es immer wieder Erfahrungen gegeben, dass das gut gelaufen ist, in den skandinavischen Staaten, auch in Deutschland in einigen Bundesländern haben wir Erfahrung damit gemacht, Sachsen-Anhalt hat acht Jahre lang eine Minderheitsregierung gemacht und hat funktioniert. Aber im Bund ist das insofern anders, als der Bund mehr auf die Gesetzgebungsmaschinerie angewiesen ist als die Länder, die ja mehr Vollzugsaufgaben haben.
Kassel: Aber was bedeutet das für Dinge über reine Gesetze hinaus? Lassen Sie uns separat gleich noch mal zu der Haushaltsfrage kommen, an der ja schon mal eine Minderheitsregierung in Nordrhein-Westfalen gescheitert ist. Aber was bedeutet das – wir haben gerade die Glyphosat-Abstimmung erlebt zum Beispiel – für die EU-Ebene? Könnte eine Minderheitsregierung überhaupt die Bundesrepublik vollumfänglich auf europäischer Ebene vertreten?
Puhl: Na ja, juristisch kann sie das, das haben wir ja gesehen. Die Glyphosat-Entscheidung ist eine exekutive Entscheidung. Es wird im Ministerrat entschieden, da sind die Vertreter der Regierung. Und die Regierung ist ja da, die Minderheitsregierung. Also entscheidungsfähig ist sie. Eine ganz andere Frage ist, ob sie sich politisch zurückhält, weil sie eben sagt, ich habe kein volles Mandat und so. Das ist alles denkbar und dass sie politisch dann auch nach außen angeschlagen wirkt. Aber handlungsfähig ist sie in diesen Punkten, gerade was die Außenpolitik angeht und die EU.
Kassel: Kommen wir auf das große Thema Haushalt! Die Haushaltsdebatten im Bundestag sind immer die großen Schlagabtausche, wo die Opposition traditionell immer alles nennt, was ihr an der Regierungspolitik nicht gefällt, und in der Regel wird dann der Haushalt verabschiedet mit den Stimmen der Regierung. Was wäre denn, wenn eine Minderheitsregierung für einen Bundeshaushalt keine Mehrheit findet? Wäre dann das ganze System lahmgelegt?

"Große Sprünge nach vorne funktionieren nicht"

Puhl: Nein, das ist bei uns nicht wie in den USA, wo der Haushaltsnotstand ausbricht und dann die Angestellten auf der Straße sitzen zu Hunderttausenden, sondern bei uns gibt es eine Notfallvorschrift, ein Nothaushaltsrecht, Artikel 111 Grundgesetz, der im Grunde sagt: Alle rechtlichen Verpflichtungen darf der Bund erfüllen auch ohne Haushaltsgesetz. Er darf auch Dinge, die er schon angefangen hat – was weiß ich, Bauten, für die im vorigen Haushalt schon Sachen bewilligt waren –, fortführen. Nur was eben nicht funktioniert, sind große Sprünge nach vorne, Reformen, die wirklich Geld kosten. Also Neues anpacken geht nicht, es sei denn man findet für den Einzelfall eine Lösung, was weiß ich, die Renten um soundso viel Prozent zu erhöhen. Dann hat man eine Rechtsverpflichtung und dann darf der Finanzminister das Geld auch ausgeben, ohne dass er dazu eine haushaltsgesetzliche Ermächtigung hat. Also da hilft das Grundgesetz stark weiter.
Und auch im umgekehrten Fall, dass das Parlament plötzlich spendierfreudig wird und sagt, wir machen von der Mehrheit her Wahlgeschenke, die die Regierung erfüllen muss, und die Regierung muss aber den Haushalt zusammenhalten, das ist eine Situation, das haben wir noch nie so gehabt. Aber in der Minderheitsregierung könnte das eine Rolle spielen. Auch da allerdings hält das Grundgesetz eine Vorschrift bereit und sagt: Einnahmen-mindernde oder Ausgaben-erhöhende Gesetze bedürfen der Zustimmung der Regierung. Und das ist gerade auf so eine Minderheitsregierungssituation zugeschnitten, damit eben die Regierung nicht auf diese Weise vorgeführt werden kann.
Kassel: Das heißt, ich habe Sie jetzt richtig verstanden: Es könnte nicht sein, dass, wenn sich jetzt alle Oppositionsparteien zusammenfinden, die in Bezug auf den Haushalt irgendwas beschließen können, was die Regierung gar nicht möchte?
Puhl: Sie können jedenfalls nicht positiv zu Ausgaben sie zwingen. Die Regierung kann immer Nein sagen. Das ist ganz deutlich geregelt in 113 Grundgesetz. Und umgekehrt, die Regierung kann alles, was schon begonnen ist, und die rechtlichen Verpflichtungen – was weiß ich, die Gehälter der Beamten und der Angestellten und so was –, das kann sie alles fortführen, auch ohne dass ein Haushalt verabschiedet ist.
Kassel: Kommen wir noch mal zurück auf diese Grundfrage, wo lägen Vor- und Nachteile einer Minderheitsregierung. Natürlich, Sie haben das ganz am Anfang gesagt, Professor Puhl, am besten ist natürlich eine stabile Mehrheitsregierung. Wenn wir die nun aber schlicht nicht kriegen – SPD spielt nicht mit, ich glaube, Jamaika ist doch mehr oder weniger vom Tisch jetzt –, hätte dann so eine Minderheitsregierung nicht auch Chancen? Also gerade die! Wir sehen das ja in der Bevölkerung, da sagt ja auch mancher, gut, zum Teil gefällt mir das, was die Partei Die Linke sagt, in einigen Punkten finde ich die CDU gut, in dem einen Fall gefällt mir sogar die FDP besser. Spiegelt nicht sogar ein Bundestag, der immer am Einzelfall abwägen und sich einigen muss, vielleicht die Bevölkerung viel besser wider?

Ein mühsamer Aushandlungsprozess

Puhl: Das kann durchaus sein, dass man in Sachfragen da weiter kommt. Allerdings ist der Aushandlungsprozess in jedem Einzelfall dann mühsamer, als wenn man sich eben auf eine Koalitionsvereinbarung stützen kann, die die Grundpflöcke schon eingerammt hat. Aber die Frage ist eigentlich weniger … Also die Minderheitsregierung kann funktionieren, wenn die politischen Turbulenzen nicht gar zu groß sind und man es schafft, im Einzelfall Kompromisse zu schließen. Diese Fähigkeit, Kompromisse zu schließen, ist das entscheidende Merkmal, um aus einer parlamentarisch schwierigen Situation keine wirklich echte, ernsthafte Krise werden zu lassen.
Weimar ist gescheitert, weil die demokratischen Kräfte nicht in der Lage waren, sich zu vereinigen, und dann die Ränder so stark wurden, gerade durch wiederholte Neuwahlen. Also wenn man in 14 Jahren 19 Regierungen hat und davon über die Hälfte Minderheitsregierungen und dann gibt es immer wieder Neuwahlen, das stärkt die extremen Ränder. In Weimar war das NSDAP und KPD und bei uns könnten eben AfD und Linke durchaus davon profitieren. Und am Ende, wenn es da Mehrheiten gäbe – was ich jetzt auf absehbarer Zeit nicht sehe –, dann könnte das ganze System in Frage geraten. Deswegen ist es eine Abwägung, die der Bundespräsident zu treffen hat, ob er glaubt, Neuwahlen bieten Chancen, dass neue Mehrheitsverhältnisse, stabile Mehrheitsverhältnisse im Bundestag einer Regierung helfen, oder ob er eben befürchtet, dass sich letztlich die Sache nicht bessert, sondern die Ränder stärker werden und das System gefährden.
Kassel: Stellen Sie sich vor, Sie wären jetzt in der Rolle des Bundespräsidenten, und stellen wir uns vor, sämtliche Koalitionsmodelle sind vom Tisch! Was würden Sie denn bevorzugen, Minderheitsregierung oder Neuwahlen?
Puhl: Ich würde das jedenfalls zunächst mal mit der Minderheitsregierung probieren. Man kann ja immer noch … Wenn man sieht, es funktioniert nicht, kann die Kanzlerin in diesem Fall die Vertrauensfrage stellen. Und wenn sie die verliert, was dann absehbar wäre, dann kann der Bundespräsident immer noch Neuwahlen ausschreiben, den Bundestag auflösen.
Kassel: Thomas Puhl von der Universität Mannheim über die Vorteile, die es auch gibt, aber auch großen Nachteile einer Minderheitsregierung. Herr Puhl, vielen Dank für das Gespräch!
Puhl: Herr Kassel, ich danke!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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