Milena Jesenská: "Prager Hinterhöfe im Frühling"

Viel mehr als nur die Freundin Kafkas

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Das Buch "Prager Hinterhöfe im Frühling" von Milena Jesenská behandelt Feuilletons und Reportagen von 1919-1939.
Milena Jesenskás Texte und Feuilletons sind erstaunlich anschlüssfähig an gegenwärtige Debatten. © Deutschlandradio / Wallstein
Von Helmut Böttiger · 11.12.2020
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In der tschechischen Kulturgeschichte ist Milena Jesenskás Bedeutung spätestens seit einer großen Werkausgabe von 2016 erkannt. Mit einer Textauswahl daraus kann man die engagierte und undogmatische Journalistin nun auch hierzulande entdecken.
Milena Jesenská kennen alle nur als Freundin Franz Kafkas – als Adressatin unzähliger Briefe, mit denen er sie in emotionale Extremsituationen versetzte. Völlig untergegangen ist dabei, dass sie selbst eine erfolgreiche Journalistin war und mittlerweile in der tschechischen Kulturgeschichte eine nicht unerhebliche Rolle spielt.
Eine Ausgabe ihrer Werke, die 2016 nach langen Recherchen in Prag erschien, weist insgesamt 1091 Artikel, Feuilletons und Reportagen aus den Jahren zwischen 1919 und 1939 nach. Für die deutsche Übersetzung hat Alena Wagnerová nun 79 Texte davon ausgewählt. Es ist eine spannende Expedition in historisch verschüttetes Gelände, die nebenbei auch indirekt aufschlussreiche Einblicke in Franz Kafkas Lebenswirklichkeit erlaubt – aber es geht hier natürlich explizit um die individuelle Lebensleistung Milena Jesenskás.

Soziale Ungerechtigkeiten

Sie wurde 1896 in Prag geboren und besuchte dort das erste Mädchengymnasium. Gegen den Willen ihres Vaters, der sie deshalb zunächst in einer psychiatrischen Anstalt unterbrachte, heiratete sie nach ihrer Volljährigkeit den Literaten Ernst Pollak. Sie zog mit ihm 1918 nach Wien und schrieb von dort als Korrespondentin für eine Prager Zeitung erste Zeitungsartikel. Ihre Berichte aus dem Wiener Alltag widmen sich vor allem sozialen Ungerechtigkeiten und den armen Bevölkerungsschichten. Ihre Beschreibung der billigen Gemeinschaftsküchen beispielsweise ist so intensiv, dass man den üblen fettigen Krautgeruch selber wahrnimmt.
Während und nach der Trennung von Ernst Pollak hat sie einige Männerbeziehungen, von denen die zu Franz Kafka sicherlich die aufregendste ist – ihr Nachruf auf Kafka 1924 ist sehr bewegend und von tiefer Kenntnis seiner Eigenart gezeichnet. Als sie nach Prag zurückkehrt, hat sie in den zwanziger Jahren ihre beste Zeit – unter anderem wandelt sie die Frauenseite der wichtigsten Tageszeitung "Národní listy" subversiv in ein emanzipatorisches Forum um.

Kampf um eine neue Frauenrolle

Der Artikel "Der Teufel am Herd" beschreibt 1923 ein damals sehr provokantes Verständnis einer Ehe: es geht dabei nicht um "Glück", sondern eher um eine Solidargemeinschaft. Eine Zeitlang ist sie auch eine überzeugte Kommunistin, bis sie wegen ihrer moralischen Verve als "Trotzkistin" verstoßen wird. Nach dem "Anschluss" an Hitlerdeutschland arbeitet sie im Widerstand, wird verhaftet und kommt 1944 im Konzentrationslager Ravensbrück um.
Es gibt drei Phasen in der journalistischen Laufbahn Milena Jesenskás. Die Berichte aus Wien, die Kafka äußerst angemessen als "Prosastücke" bezeichnete, verraten einen ungetrübten Blick auf die Verhältnisse und sind atmosphärisch genau. Die Prager Zeit als Mode- und Familienfeuilletonistin zeigt einen intensiven Kampf um eine neue Frauenrolle, und die letzte, politisch sehr engagierte Phase zeugt von einer undogmatischen und unbestechlichen linken Haltung. Ihre Artikel in der liberaldemokratischen Wochenzeitung "Pritomnost" zwischen 1937 bis 1939 wirken sehr klarsichtig und anschlussfähig an aktuelle Debatten.

Milena Jesenská: "Prager Hinterhöfe im Frühling", Feuilletons und Reportagen 1919-1939
Hg. von Alena Wagnerová
Aus dem Tschechischen von Kristina Kallert
Wallstein Verlag, Göttingen 2020
416 Seiten, 32 Euro

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