Regisseur Mike Mills über "Come On, Come On"

"Ein konstanter Blindflug"

13:16 Minuten
Der neunjährige Jesse und Radioreporter Johnny schlagen mit den Händen ein. Sie sitzen in einer Bar am Tresen, das Bild ist schwarz-weiß und recht dunkel.
Lernen sich kennen: Der neunjährige Jesse und Radioreporter Johnny. © imago images/Prod.DB
Mike Mills im Gespräch mit Patrick Wellinski · 26.03.2022
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Der US-amerikanische Regisseur Mike Mills schöpft für seine Filme wie „Thumbsucker“ aus dem eigenen Leben. Er thematisiert sein Verhältnis zu den Eltern. Für „Come on, Come on“ hat er sich mit seiner eigenen Vaterschaft auseinandergesetzt.
Mike Mills möchte wissen, wie Kinder die Welt sehen und verstehen, warum Erwachsenen diese Perspektive so fremd geworden ist. In "Come On, Come On" erzählt er vom Radiojournalisten Johnny (Joaquin Phoenix), der auf seinen neunjährigen Neffen Jesse (Woody Norman) aufpassen soll. Onkel und Neffe haben zunächst Startschwierigkeiten, lernen aber voneinander die Welt anders zu sehen und – vor allem – zu hören.
Patrick Wellinski: Sie haben erzählt, dass „Come on, Come on“ ein sehr persönlicher Film für sie ist, weil sie ihn konzipiert haben, als sie über ihre Rolle als Vater nachgedacht haben. Wie hat diese Erfahrung den Film geprägt?
Mike Mills: Das meiste des Films ist durch mein Leben der letzten Jahre geprägt. Zum einen ist das Kind im Film ungefähr im Alter meiner eigenen Tochter. Und ich habe mich häufiger mit dem Gedanken beschäftigt, wie meine Tochter mich wahrnimmt. Einmal habe ich vor ihr geweint und sie hat mich später damit aufgezogen. Ich habe mich danach gefragt: Wieso ist das passiert? Wer bin ich eigentlich für dieses Kind? Ich wollte verstehen, welches Bild von der Welt Kinder haben.
Dabei sollte die Würde dieser Kinderperspektive intakt bleiben. Ich wollte die Wahrnehmung von Kindern nicht verniedlichen. Das war beim Schreiben des Drehbuchs eine große Herausforderung. Denn Kinder haben eine interessante Irrationalität. Man kann als Erwachsener schwer mit ihnen streiten – sie gewinnen immer. Aber auch das wollte ich vermitteln. Diese Erfahrung war mir wichtig.

"Im Grunde fühle ich mich auch so als Vater"

Wellinski: Der eigentliche Twist ihres Films ist aber, dass Johnny nicht der Vater von Jesse ist. Er ist sein Onkel. Interessanter Einfall, vor allem, weil Sie ja gerade erzählt haben, wie prägend gerade die Vaterperspektive auf die Geschichte war.
Mills: Ja, das stimmt. Ich habe mich für eine Onkel-Neffe-Konstellation entschieden, weil ich beim Verfassen des Drehbuchs mich langsam von mir selbst entfernen wollte. Es sollte ja keine Autobiografie werden. Ich wollte auch nicht das Leben meiner Tochter in die Öffentlichkeit zerren. Die Geschichte sollte etwas Allgemeingültiges haben. So entstand die Figur von Johnny.
Ein Onkel, der seinem Neffen fremd ist, weil er eigentlich nie da ist, weil er auch an der Ostküste lebt und viel unterwegs ist. Und Johnny selbst sollte kein Vater sein, sodass die Konfrontation mit seinem Neffen Jesse auch für ihn etwas Neues ist. Im Grunde fühle ich mich so auch als Vater. Jedes Erlebnis mit meinem Kind ist etwas völlig Neues, auf das ich mich nicht vorbereiten kann. Ein konstanter Blindflug. So geht es mir jedenfalls.
Wellinski: Johnny ist ein Radiojournalist. Er arbeitet gerade an einer größeren Reportage, für die er quer durch ganz Amerika Kinder interviewt und sie nach ihren Gedanken und Einschätzungen über die Zukunft der Welt fragt. Ein eigenartiges Projekt…
Mills: Ich liebe den Podcast „This American Life“ und höre auch gerne die alten Interviewsendungen der Radiolegende Studs Terkle. Und ich dachte mir, dass so ein Projekt doch durchaus in solchen Formaten stattfinden könnte. Ich finde das deshalb auch kein seltsames Reportagethema. Ich konnte dann während meiner Recherche auf die Hilfe der Radiojournalistin Molly Webster zurückgreifen, die für die Audio-Produktionsfirma RadioLab arbeitet, und sie hat die Idee auch ganz gut gefunden und meinte, dass so etwas durchaus ein Projekt sein könnte, das ihre Kollegen in Angriff nehmen würden.

DIe Motivation der Figuren darf vage bleiben

Wellinski: Johnny ist am Ende aber eine Figur, die nach Antworten sucht, während er alle Menschen um sich herum befragt. Wo ist er gerade in seinem Leben, wenn wir ihn kennenlernen? Er wirkt wie ein Mensch, der das Leben eher von außen betrachtet und es nicht in vollen Zügen lebt.
Mills: Ja, ein wenig wird das so sein. Wissen Sie, diese Frage hat mir auch der Hauptdarsteller Joaquin Phoenix gestellt, als wir uns zum ersten Mal getroffen haben. Er wollte gleich wissen: Woher kommt dieser Johnny, was ist sein Problem, warum braucht er dieses Kind, was macht das mit ihm? Das hat mich aber alles nicht interessiert. Das wirkt auch so unerträglich didaktisch. Das ist nicht meine Idee von Kino. Ich möchte, dass die Motivation eher vage bleibt, weil man die Komplexität des Lebens nicht auf dramaturgische Kniffe reduzieren kann.

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Also: Was ist Johnnys Problem? Ich weiß es nicht. Hat er überhaupt ein Problem? Ich weiß es wirklich nicht. Er ist allein. Aber leidet er darunter? Er ist nicht verheiratet, will es vielleicht – oder auch nicht.
Mich hat nicht so sehr interessiert, woher er kommt und was seine Wunde ist. Mich hat interessiert, wie Johnny mit diesem Kind umgeht, wie wird er reagieren, wenn er auf Jesse trifft, was macht das mit ihm? Manchmal kam es beim Drehen zu Momenten, in denen ich mit Phoenix über gewisse Motivationen der Figur sprechen musste. Aber die Antworten, die wir entwickelt haben, mussten wir uns manchmal am Set einfach ausdenken.
Also: Ich weiß schon hin und wieder, was meine Figur da antreibt. Aber ich sage es nicht. Es ist auch nicht Teil der Erfahrung, die ich vermitteln will. Billige Kausalitäten sind nicht meine Absicht.
Wissen Sie, es gibt einen deutschen Film, der mich als Regisseur enorm beeinflusst hat, und zwar „Alice in den Städten“ von Wim Wenders. Die Hauptfigur Philip Winter ist auch eine Leerstelle. Was zur Hölle will der? Woher kommt er? Was treibt ihn an? Keine Ahnung! Wen interessiert das schon? Das ist auch gar nicht das Interessante. Interessant ist seine Reise, seine Erfahrung mit der kleinen Alice. Und so habe ich als Zuschauer viel erfahren von seiner Weltsicht, von seinen Gefühlen – am Ende zählt doch nur das. Und das ist nicht gerade wenig.

"Es gibt viele Hindernisse für die beiden"

Wellinski: Wenn Sie schon Bewegung erwähnen: Ihr Film ist auch ein Film über die West- und Ostküste der USA und die vielen kulturellen Unterschiede, die es dort zu entdecken gibt. Johnny nimmt Jesse mit nach New York, einer Stadt, in der sie sich verlieren können, aber in der es auch viel Enge gibt, auch weil Johnnys Wohnung sehr klein ist. Und die beiden aufeinander hocken.
Mills: Stimmt, aber für mich hat diese Konstellation auch etwas von einer romantischen Komödie. Am Anfang ist noch alles gut zwischen Johnny und Jess, wie bei einem ersten Date. In Los Angeles scheint die Welt und die Beziehung zwischen Onkel und Neffe harmonisch und verträumt. Es gibt wenige Konflikte, dafür viel Neugier. Die Luft in Los Angeles eignet sich dafür ganz gut, auch wenn ich den Ort damit sicherlich etwas romantisiere.
In New York ändert sich das. Es gibt viele Hindernisse für die beiden. Es gibt in der Stadt viel mehr Energie und Chaos. Da müssen sich die beiden immer wieder neu beweisen. Und schließlich kommen wir nach New Orleans, wo es eine sehr tiefe, spirituelle Atmosphäre gibt. Eine Stadt, von der ich immer sage, dass sie jeden dazu einlädt, verletzlich zu sein. Und auch das lockt etwas Neues in meinen Figuren hervor.
Wellinski: Ich frage auch, weil Sie in einem sehr besonders dichten Schwarz-Weiß gedreht haben. Und gerade New Orleans und auch New York sind sehr bunte Städte. Was war die Idee hinter Ihrem dann doch sehr intellektuellen Schwarz-Weiß. Ging es ums Fokussieren der Zuschauer?
Mills: Für mich funktioniert das Schwarz-Weiß auf mehreren Ebenen. Zum einen konnte ich dadurch Amerika im Jahr 2019 festhalten. Der Film ist dahingehend fast dokumentarisch zu verstehen. Gleichzeitig bekommt die Geschichte durch die Farblosigkeit etwas Mythisches. Der Film erlangt dadurch eine Atmosphäre einer Fabel oder einem Märchen. Das war mir sehr wichtig.
„Come On, Come On“ ist ja ein Film von einem Mann und einem Kind, die gemeinsam durch die Zeit schreiten. Das unterstützt die Schwarz-Weiß-Fotografie.
Auf einer völlig anderen Ebene erlaubte mir diese ästhetische Entscheidung ein anderes Arbeiten mit Raum. Wissen Sie, Schwarz-Weiß löst bei mir das Gleiche aus wie die Musik von Erik Satie. Ich assoziiere damit viel Raum und Fläche. Ein Platz, dem ich den Zuschauern gerne einräume, um sich in dieser Geschichte selbst einzurichten. In einem Farbfilm bekommt man viel stärker eine gewisse Perspektive aufgezwungen. Ohne Farbe hat man mehr Zeit, sich mal umzuschauen, Gesichter und Orte genauer zu betrachten.

"Das Fehlen von Farbe im Bild beeinflusst unsere Wahrnehmung"

Wellinski: Interessant, weil mir das Schwarz-Weiß auch half, mich auf die Tonspur des Films zu konzentrieren. In gewisser Hinsicht ist der Film ja ein Radiofeature. Es gibt viele Mikrofone, Kopfhörer. Etwas, dass die Verbindung zwischen Onkel und Neffe intensiviert. Als gäbe es eine andere Welt zwischen ihnen.
Mills: Wissen Sie, was seltsam ist? Das war mir nie aufgefallen, und ich weiß nicht, woran das liegt, aber Schwarz-Weiß „frisst“ Ton. Das ist so seltsam. Immer wenn ich über eine Szene Musik gelegt habe, mussten wir mehr Musik nehmen. Es reichte irgendwie nie. Als würde die Tiefe des Raums die Tonspur beeinflussen. Auch Geräusche wie Vogelgezwitscher und das Brummen von Autos waren betroffen.
Von diesen Tönen mussten wir viel mehr nutzen als sonst in meinen Filmen. Ich habe das immer noch nicht ganz verstanden. Ich erkläre mir das so: Das Fehlen von Farbe im Bild beeinflusst unsere Wahrnehmung so, dass wir dem Ton des Films die Bedeutung von Farbe zuweisen. Wir hören dann mehr und intensiver. Und deshalb mussten wir viel mehr Ton einsetzen.
Wellinski: Woody Norman spielt den kleinen Jesse. Und das ist schon ein außergewöhnlicher Schauspieler, voller Weisheit und Lebenslust. Das ist sehr rar bei Kinderdarstellern. Wie haben Sie ihn gefunden und wie haben sie mit ihm gearbeitet? Schließlich musste er ja mit Joaquín Phoenix, einem der besten Schauspieler seiner Generation, harmonieren!
Regisseur Mike Mills erläutert Kinderdarsteller Woody Norman die nächste Szene. Sie stehen in einem Park, im Vordergrund ein Monitor und der Kameramann.
Bei der Arbeit: Regisseur Mike Mills erläutert Kinderdarsteller Woody Norman die nächste Szene. © imago images/Prod.DB
Mills: Es war reines Casting-Glück. Er gehörte zu den ersten Kindern, die wir gecastet haben. Er ist ja eigentlich Brite und hat sich für den Film einen amerikanischen Akzent antrainiert, was ich schon sehr beeindruckend fand. Er ist ein sehr intelligentes und spielfreudiges Kind, ohne die Makellosigkeit von professionellen amerikanischen Kinderdarstellern zu haben. Das hat mir sehr gefallen. Vielleicht ist das auch der Verdienst der Mutter oder einfach sein Wesen. Das weiß ich gar nicht so genau. Er hat auch ein enorm intelligentes Verhältnis zu sich selbst. Viel stärker, als ich es habe. Auch das hat mich beeindruckt.
Mir war daher auch klar, dass ich am Set Woody viel Freiheit lassen musste. Bloß keine allzu großen Vorgaben machen. Ich wollte Woody einfach machen lassen. Immer wenn er Fragen zu einer Szene hatte, habe ich ihn zurückgefragt: Was meinst du denn? Er hatte immer tolle Einfälle und Impulse. Und so hat er einen großen Einfluss auf die Gestalt der Geschichte gehabt. Das war ein Wunder. Der Junge hat viel Talent. Und am Ende hat er gar nicht viel „gespielt“, sondern „war“ einfach Teil der Geschichte.

"Ich vertraue meinen Darstellern, meinem Team"

Wellinski: Ist es nicht vielleicht auch etwas schwierig für Sie als Regisseur, so viel Kontrolle abzugeben? Haben Sie Angst vorm Kontrollverlust?
Mills: Die Kontrolle abzugeben ist der wichtigste Teil meines Jobs. Ich habe davor keine Angst.

Ich bin wie ein Gärtner, der alle wichtigen Dinge zusammenfügt, um der Natur ihren Lauf zu lassen.

So wie es meine Vorbilder gemacht haben wie Fellini, die eben Kontrolle abgeben konnten …
Wellinski: Aber hinter Ihnen hängt ein Porträt von Buster Keaton, der doch genau das Gegenteil von Improvisation war, sondern ein Beispiel für die totale Kontrolle am Set?
Mills: Meinen Sie? Buster Keaton war voller Zweifel, was die Effekte seiner Szenen anging. Er wusste am Tag des Drehs nie, was er genau machen soll. Aber wenn er sich dann mal entschieden hatte, dann wusste er genau, wie er die Mechanik des Humors am besten inszenieren konnte. Doch für seine Drehbücher galt, dass er sich da sehr intuitiv herantasten musste. Er hatte keinen Plan, keine Formel, an der er sich festhalten konnte. Er vertraute einfach dem Prozess des Filmemachens. Das würde ich auch von mir behaupten.
Dieses Urvertrauen, dass die einzelnen Rädchen schon funktionieren werden, das prägt mein Arbeiten sehr. Ich vertraue meinen Darstellern, meinem Team. Aber ich vertraue auch der Magie des Lebens. Wobei ich weiß, dass das sehr kitschig klingt.
Wissen Sie, Fehler werden eh passieren. Sie stellen eine Kamera in New York auf und lassen Schauspieler etwas machen – das führt unweigerlich zu Fehlern. Fellini würde aber sagen, dass diese Fehler Geschenke von den Filmgöttern sind. Ich sehe das ähnlich. Man muss nur lernen, damit umzugehen.
Ich wünschte, ich könnte so offen und frei meinen Arbeitsprozess gestalten, wie der Brite Mike Leigh das macht. Er hat eine unfassbare Freiheit im Umgang mit Schauspielern. So viel Freiheit habe ich nicht. Aber ich bemühe mich immer, offen zu sein für alle diese Geschenke, die vor meiner Kamera passieren. Und dahingehend ist das wichtigste Element meiner Arbeit das Loslassen. Dann wird der Weg frei für etwas Größeres, eine Wahrhaftigkeit der Geschichte, die dann in Amerika genauso funktioniert wie auch in Deutschland. Dazu müssen wir aber alle loslassen. Erst dann kann dieser Effekt eintreten.

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