Migrationsdebatte

Wir sollten uns 2015 zum Vorbild nehmen!

Ein Schild in den Farben der Ukraine mit der Aufschrift "Welcome" ist am Hauptbahnhof zu sehen. Im Hintergrund werden Geflüchtete aus der Ukraine nach ihrer Ankunft von Mitarbeitenden der Caritas und Ehrenamtlichen empfangen.
Aufnahme Geflüchteter aus der Ukraine in München: Anstatt dass man die Willkommenskultur hervorhebt, ist der Negativdiskurs in Politik und Medien zurück, kritisiert Jan Plamper. © picture alliance / dpa / Sven Hoppe
Ein Kommentar von Jan Plamper · 02.11.2022
Es ist das größte zivilgesellschaftliche Engagement der deutschen Nachkriegsgeschichte: die Unterstützung für Geflüchtete. Zeit also, dem Spruch „2015 darf sich nicht wiederholen“, positive Erzählungen entgegenzusetzen, meint Historiker Jan Plamper.
Erst der Flüchtlingsgipfel von Innenministerin Faeser und den Kommunen, dann der EU-Gipfel zur Eindämmung der Migration über die Balkanroute – das „Megathema“ Migration ist zurück auf der Agenda.
Dabei wird ständig auf 2015 Bezug genommen, aber anstatt dass man sich an die Willkommenskultur erinnert, ist der Negativdiskurs zurück, sogar die negativ besetzten Naturmetaphern von „Welle“, „Strom“ und „Schwemme“. Und das selbst in Medien wie ARTE, das kürzlich fragte, „Steht Europa vor einer neuen Flüchtlingswelle?“ Der Deutschlandfunk titelte einen Tag später: „EU-Innenminister beraten über wachsenden Flüchtlingsstrom“. Letztlich laufen viele so einem rechten Narrativ von „2015 darf sich nicht wiederholen“ hinterher.

Breites zivilgesellschaftliches Engagement

Es könnte so anders sein. Man könnte das breite zivilgesellschaftliche Engagement von 2015 hervorheben, das die Blaupause für das Engagement für ukrainische Geflüchtete 2022 bildete. Im November 2015 engagierten sich knapp neun Millionen Menschen in Deutschland ehrenamtlich für Geflüchtete.

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Im Mai 2016 waren es trotz des angeblichen Endes der Willkommenskultur noch mehr geworden: fast zehn Millionen Menschen. Im Februar 2018 kam eine Allensbach-Umfrage sogar auf fast 16 Millionen, die in der Flüchtlingshilfe tätig waren.
Selbst die zurückhaltendsten Schätzungen besagen: Das zivilgesellschaftliche Engagement für Geflüchtete seit dem sogenannten „langen Sommer der Migration“ 2015 ist das größte in der Nachkriegsgeschichte Deutschlands. Dieses Engagement – die Sachspenden, die Begleitung bei Behördengängen, die Übernahme von Vormundschaften für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, die Nachhilfe für Schulkinder – ist die breiteste soziale Bewegung Deutschlands seit 1945.

Besonders Menschen mit Fluchterfahrung aktiv

Als dieses Jahr binnen sechs Monaten fast eine Million Geflüchtete aus der Ukraine ins Land kamen, stand die Zivilgesellschaft wieder bereit. Dass der Staat bei Fluchtmigration immer zu zögerlich reagiert und dass man auf kommunaler und zivilgesellschaftlicher Ebene notgedrungen auf sich selbst gestellt ist, das war eine der Lehren aus 2015.
Nur deshalb wiederholten sich die chaotischen Szenen am Berliner LAGeSo von 2015 nicht, nur deshalb funktionierte die „Graswurzelerstaufnahme“, wenn man so will, am Berliner Hauptbahnhof so gut – die Verteilung von Geflüchteten auf Privatunterkünfte usw.
Übrigens: Waren 2015 auffällig viele Vertriebene in der Flüchtlingshilfe aktiv, so waren 2022 auffällig viele Menschen mit kürzer zurückliegender Migrationsbiografie dazugekommen. Denn wer sich aktiv an die eigene Fluchterfahrung erinnert, wird oft irgendwann selbst solidarisch gegenüber jenen, die heute gezwungen sind, zu fliehen.
Bei der nächsten großen Fluchtbewegung – und sie kommt bestimmt – werden sich die syrischen Geflüchteten von 2015 engagieren, die meisten von ihnen bis dahin eingebürgerte Deutsche, arbeitende, steuerzahlende Deutsche syrischer Herkunft.

Argumente sind auf der Seite der Engagierten

Warum kommt das alles im aktuellen Diskurs über Migration nicht vor? Warum versuchen sogar Linke, die „Sorgen der Leute ernst zu nehmen“, ohne erst einmal genau hinzuschauen: was für Sorgen das sind, um welche Leute es sich handelt und um wie viele Leute?
Die Wahrheit ist: Die Sachargumente sind auf der Seite der Engagierten, es handelt sich bei den Besorgten um eine Minderheit. Und zur Wahrheit gehört auch: Migrationspanik ist schrill, Anstand und Engagement sind still. Lassen Sie uns das ändern und dem Spruch „2015 darf sich nicht wiederholen“ eine andere Erzählung entgegensetzen – faktenbasiert, selbstbewusst und gut hörbar.

Jan Plamper ist Professor für Geschichte an der University of Limerick. Seine letzte Buchveröffentlichung ist „Das Neue Wir. Warum Migration dazugehört: Eine andere Geschichte der Deutschen“ (S. Fischer, 2019).

Der Historiker Jan Plamper trägt ein schwarzes T-Shirt und lächelt in die Kamera.
© Evgenia Gostrer
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