Feminismus

Wie die migrantische Frauenbewegung entstand

Berlin-Kreuzberg 1981: Eine türkische Frau trägt Holz aus einem Abrisshaus nach Hause.
Berlin-Kreuzberg 1981: Migrantinnen hatten oft mit vielen Problemen zu kämpfen. © picture alliance / zb / Paul Glaser
Sie kamen aus der Türkei, Jugoslawien und anderen Ländern: Als Arbeitsmigrantinnen oder durch Familienzusammenführung wanderten viele Frauen nach Deutschland ein – und vernetzten sich dann, um für ihre Interessen zu streiten.
In den Nachkriegsjahrzehnten kamen viele Frauen als Gastarbeiterinnen, Ehefrauen oder Mütter aus den sogenannten Anwerbeländern nach Deutschland. Ihr Leben hier war oft von Vorurteilen, Diskriminierung und struktureller Benachteiligung geprägt. Die Einwanderinnen begannen deswegen, sich zu vernetzen und zu organisieren. Die migrantische Frauenbewegung in Deutschland setzte neue Themen auf die feministische Agenda und brachte neue Perspektiven in die Frauenbewegung ein.

Wie entstand die migrantische Frauenbewegung in Deutschland?

1955 schloss die Bundesrepublik Deutschland mit Italien das erste Anwerbeabkommen. Die ersten sogenannten Gastarbeiter kamen nach Deutschland. Die Arbeitsmigration wurde lange als männliches Phänomen wahrgenommen. Doch tatsächlich waren rund 30 Prozent der migrantischen Arbeitskräfte Frauen, aus Ländern wie der Türkei, Griechenland oder Jugoslawien. Im Zuge der Familienzusammenführung zogen viele weitere Frauen nach Westdeutschland.
Oft verfügten die Migrantinnen weder über deutsche Sprachkenntnisse noch über soziale Kontakte. In den 1960er- und 1970er-Jahren entstanden daraufhin selbstorganisierte Unterstützungsangebote von Migrantinnen für Migrantinnen: Frauenvereine, Beratungsstellen, Hilfe zur Selbsthilfe, Räume zur Begegnung. Die ersten Angebote gab es in großen Städten wie Berlin, Hamburg und Köln. 
Viele dieser Orte gibt es bis heute, zum Beispiel der Türkische Frauenverein, der 1975 in West-Berlin von Migrantinnen mit Verbindungen zur türkischen kommunistischen Partei gegründet wurde. Der Verein war die erste unabhängige Migrantinnen-Organisation, die sich den strukturellen Problemen von Frauen aus dem türkischsprachigen Raum in Deutschland widmete.
Ein sehr wichtiger Initialmoment für die migrantische Frauenbewegung war außerdem der „Gemeinsame Kongresses ausländischer und deutscher Frauen“, erklärt die Historikerin Elisabeth Kimmerle vom Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam.
Der Kongress fand 1984 in Frankfurt am Main statt. Die Migrantinnen hätten sich dort „sichtbar, deutlich und lautstark auch gegen Vereinnahmungstendenzen und gegen Rassismus und auch gegen hegemoniale Machtstrukturen innerhalb der deutschen Frauenbewegung gewehrt“, sagt Kimmerle. Nach dem Kongress bildeten sich überall in Westdeutschland Frauengruppen, die sich mit den Themen der Migrantinnen auseinandersetzten.

Was waren die zentralen neuen Positionen der migrantischen Frauenbewegung?

Die Migrantinnen brachten unter anderem das Thema Mehrfachdiskriminierung in die Debatten ein: Denn sie erfuhren nicht nur strukturelle Nachteile, weil sie Frauen waren, sondern mussten gleichzeitig mit Rassismus und anderen spezifischen Problemen von Ausländerinnen umgehen.
Es sei von Beginn an ein Kampf an mehreren Fronten gewesen, erinnert sich Behshid Najafi, die seit über 30 Jahren bei dem Netzwerk Agisra aktiv ist: In der migrantischen Bewegung sei es darum gegangen, spezifisch weiblich Belange zu thematisieren, etwa Gewalterfahrungen und Care-Arbeit. In der Frauenbewegung wiederum ging es darum, Aufmerksamkeit für die besonderen Probleme von Migrantinnen zu schaffen: rassistische Diskriminierung, fehlende Deutschkenntnisse und Gesetze, die nur Ausländerinnen und Ausländer betrafen.
Eines dieser Probleme – gegen das Agisra 1993 eine bundesweite Kampagne startete – war die Abhängigkeit vieler Frauen von ihren Ehemännern. Denn Paragraf 19 des sogenannten Ausländergesetzes bestimmte ehemals, dass das Aufenthaltsrecht von Frauen, die nicht als Arbeiterinnen, sondern im Zuge der Familienzusammenführung nach Deutschland kamen, für vier Jahre an die Ehe gebunden war. Immer wieder waren Frauen dadurch gezwungen, bei ihren gewalttätigen Ehemännern zu bleiben. Auch heute sind es noch immer drei Jahre, bevor Ehepartnerinnen ein unabhängiges Aufenthaltsrecht bekommen können.
Das Zusammenwirken verschiedener Diskriminierungsformen und sozialer Ungleichheiten wird heute im Feminismus als „Intersektionalität“ bezeichnet, ein Begriff, der in den 1980er-Jahren von der US-amerikanischen Juristin Kimberlé Crenshaw geprägt wurde.

Wie lief der Diskurs innerhalb der Frauenbewegung?

Zwischen der migrantischen und der deutschen Frauenbewegung bestanden Differenzen. Das Ziel war, beim „Gemeinsamen Kongresses ausländischer und deutscher Frauen“ 1984 diese Spaltung zu überwinden. Die Teilnehmerinnen wollten sowohl über Arbeits- und Aufenthaltsrecht als auch Gesundheitsfragen oder Gewalt in der Ehe diskutieren, um dann gemeinsame Forderungen an Politik und Öffentlichkeit zu stellen.
Die Erwartungen wurden jedoch nicht erfüllt. Bei den Diskussionen in den Arbeitsgruppen sahen sich viele deutsche Frauen mit ihrem eigenen Rassismus konfrontiert.
„Ich hatte als Deutsche – es fällt mir schwer, das so hinzuschreiben, weil ich mich damit nicht identifizieren kann – das Gefühl, dass manche Ausländerinnen von vornherein den Deutschen Ausländerfeindlichkeit oder zumindest Verständnislosigkeit unterstellten“, schrieb eine Teilnehmerin an die Organisatorinnen des Kongresses. Die deutschen Frauen fühlten sich vor den Kopf gestoßen. Die migrantischen Frauen erlebten die deutschen Frauen wiederum als überheblich.
Die Journalistin Ayse Tekin, die Anfang der 1980er-Jahre zum Studieren nach Deutschland kam, zieht Parallelen zu den Anfängen der Frauenbewegung. Männer hätten ähnlich überfordert auf die Forderungen von Frauen reagiert, wie die deutschen Frauen auf den Vorwurf des Rassismus durch die Migrantinnen. „Allein das ‚Wir helfen euch doch‘ – das möchte ich nicht haben. Ich möchte Augenhöhe haben“, so Tekin.
Protestkundgebung zum Internationalen Frauentag: Auf einem Protestwagen hängt ein großes gelbes Plakat mit dem Aufschrift "Kein Feminismus ohne Migration".
Frauentagsdemo 2025 in Berlin: Hier werden Migration und Feminismus zusammengedacht.© picture alliance / dts-Agentur
Migrantinnen wurden von der Mehrheitsgesellschaft als Menschen gesehen, die Hilfe benötigten, betont die Soziologin Encarnacion Gutierrez Rodriguez. Rassistische Vorurteile seien ihr im Kontakt mit deutschen Feministinnen immer wieder begegnet. „Es war für sie sehr schwierig, die Töchter der Arbeitsmigrantinnen plötzlich vor ihnen stehen zu sehen als Subjekte, die ihnen gesagt haben: Hey, ich bin nicht diese unterdrückte Migrantin. Ich bin genauso wie du. Ich komme aus einem Land, wo ich in der Frauenbewegung aktiv war, wo ich Feministin war.“

Welche Widerstände gab es in der deutschen Frauenbewegung gegen die migrantischen Positionen?

Schon vor der Wiedervereinigung hatte die westdeutsche Frauenbewegung rassistische Ausschlussformen nicht ausreichend wahrgenommen oder thematisiert. Nach 1990 fanden diese Themen dann erst recht keine Beachtung, sagt die Journalistin Ayse Tekin. Diskussionen über Ost-West-Unterschiede, ob Kinderbetreuung oder Lohngerechtigkeit, verdrängten die Anliegen der migrantischen Frauen.
Das führte zu einem Bruch zwischen Migrantinnen und deutschen Frauen. Für Tekin war das ein notwendiger Schritt: „Herrschende Kultur hat immer mit Machtverhältnissen zu tun. Und insofern mussten wir einfach schauen, wie wir unsere Themen voranbringen.“ Für migrantische Frauen rückte damals die rechte Gewalt in den Vordergrund. Mit den rassistischen Anschlägen in Rostock, Hoyerswerda, Mölln und Solingen erreichte sie Anfang der 90er-Jahre ein neues Ausmaß.
Hilfe zur Selbsthilfe, Frauenvereine, Kongresse, Beratungsstellen: Was in den 1960er- und 1970er-Jahren begann, wird von der offiziellen Geschichtsschreibung bis heute kaum aufgegriffen. Die migrantische Frauenbewegung sei im deutschen Wissenschaftsbetrieb lange ignoriert worden, sagt Elisabeth Kimmerle. Und die Soziologin Encarnacion Gutierrez Rodriguez kritisiert, dass der migrantische Feminismus noch immer oft nur als Ausdruck von Betroffenen wahrgenommen werde, anstatt die Akteurinnen auch als Theoretikerinnen zu sehen, die Debatten in Deutschland angestoßen hätten.

Feature-Autorin: Jule Hoffmann
Onlinetext: jfr
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