Alles andere als feministisch

Das Problem mit den "starken Frauen"

04:30 Minuten
Frauen in der Kleidung von "Rosie the Riveter" während einer Demonstration zum Weltfrauentag 2020 in Paris
"Rosie the Riveter" ist Vorbild für viele Frauen, wie hier auf einer Demonstration zum Weltfrauentag 2020 in Paris © ABACAPRESS / Daniel Derajinski
Ein Kommentar von Şeyda Kurt · 01.12.2023
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"Starke Frauen" sind zur Zeit im Trend. In Lifestyle- und Modemagazine zieren sie die Titelblätter, Industrieunternehmen und Parteien suchen sie, die "starke Frau". Die Autorin Şeyda Kurt findet diese Formulierung allerdings problematisch.
Die Ärmel des blauen Overalls sind hochgekrempelt, der gebeugte Arm spannt einen Bizeps an. Ein rotes Bandana leuchtet im gebundenen Haar. Eine hochgezogene Augenbraue im rosigen Gesicht signalisiert Entschlossenheit. Und eine Sprechblase formuliert die Worte: We can do it! Wir können es schaffen! Diese Grafik ist wahrscheinlich die visuelle Geburtsstunde der modernen, sogenannten „starken Frau“.
Die berühmte Illustration soll Rosie the Riveter darstellen, Rosie die Nieterin. Der Künstler J. Howard Miller entwarf sie im zweiten Weltkrieg für einen US-amerikanischen Elektrokonzern. Rosie kehrte Jahrzehnte später als Kampffigur der feministischen Arbeiterinnenbewegung in den USA zurück. In den 1980er-Jahren wurde sie dann als Sinnbild eines neuen, weiblichen Selbstbewusstseins mit Postern oder Kühlschrankmagneten in Frauen-WGs massentauglich. Sie steht für Frauen, die – ohne männliche Hilfe – schaffen, was auch immer sie wollen.
"Rosie the Riveter" gehört zu den kulturellen Ikonen der USA. Sie steht für die vielen Frauen, die während des Zweiten Weltkriegs in den Rüstungsfabriken arbeiteten. Die Frauen übernahmen dabei frühere männliche Jobs
"Rosie the Riveter" gehört zu den kulturellen Ikonen der USA. Sie steht für die vielen Frauen, die während des Zweiten Weltkriegs in den Rüstungsfabriken arbeiteten© imago / AGB Photo
Die wenigsten wissen dabei: Rosie die Nieterin verkörpert ursprünglich eine der vielen Frauen, die im zweiten Weltkrieg am schweren Niethammer gearbeitet haben. Sie versorgten die Kriegsindustrie mit Elektroteilen, während die Männer an der Front waren. Rosie ist eine Propagandafigur, die in den Fabriken die patriotische Arbeitsmoral heben sollte. Eine starke Frau nach ihrem Vorbild ist also eine, die sich in den Dienst der heimischen Kriegsanstrengungen stellt und selbstaufopfernd Aufgaben übernimmt, die eigentlich Männern zustünden. Aber, und das ist ein wesentliches Detail, zugleich ihre Weiblichkeit nicht aufgibt. Rosie ist nämlich normattraktiv. Weiß und schlank.

Für den wirtschaftlichen Erfolg und zum Wohle der Nation

Auch die deutsche Bundeswehr wirbt auf ihrer Webseite mit „Starken Frauen“ in Führungspositionen in der Armee und Wissenschaft. Doch die Formel der starken Frau hat sich längst außerhalb der Sphäre des Militärischen als Auszeichnung im Alltag etabliert. Sie hebt heute nicht nur physische, sondern auch intellektuelle wie emotionale Stärke hervor.
Gerade in der freien Wirtschaft herrscht gleichsam eine Starke-Frauen-Inflation. Die aus dem Fernsehen bekannte Unternehmerin Tijen Onaran ist eine von mehreren Frauen, die bereits 2017 ein Manifest unter dem Namen „Starke Frauen, starke Wirtschaft“ veröffentlichten. Stärke misst man hier am wirtschaftlichen Erfolg und auch wieder am Wohle der Nation.

Individueller Erfolg und Disziplin

Ein softer Neoliberalismus weiß aber auch, seine ideale auf andere Lebensbereiche auszuweiten: auf Mütter oder Aktivistinnen, die in Starke-Frauen-Rankings von Lifestyle-Magazinen ihren Platz einnehmen.
Sie alle vereint individueller Erfolg und Disziplin. Eine starke Frau macht weiter trotz der Rückschläge. Sie knüpft Netzwerke mit anderen starken Frauen. Sie gibt sich nicht ihrer Schwäche hin, dem offensichtlichen Gegenteil von Stärke. Sie ist zwar verletzbar, aber überwindet ihre naturgegebene Vulnerabilität durch Entschlossenheit. Und sie ist nach wie vor meist normschön.
Was ist aber mit Frauen, die nicht leisten? Die nicht stark bleiben? Die zerbrechen? Krank oder depressiv sind? Frauen, die keine Öffentlichkeit haben?

Die hervorgehobene Stärke als Symbol von Konformität

Auffallend ist auch: Es gibt kein männliches Pendant zur starken Frau. Oder haben Sie schon mal jemanden in Ehrfurcht sagen hören: „Wow, mein Nachbar ist echt ein starker Mann, er hat zwei Kinder und arbeitet dennoch in Vollzeit!“ Die Stärke von Männern ist offenbar keine Eigenschaft, die einer expliziten Benennung bedürfte. Sie scheint selbstverständlich.
Doch selbst wenn Männer als „stark“ ausgezeichnet werden würden, würde das kaum an der Vorstellung der Eigenschaften rütteln, die diesem Kompliment würdig scheinen: Individualleistung und Willenskraft.
Viel zu oft ist die hervorgehobene Stärke Symbol von Konformität. Und nicht weniger dient sie noch immer dem Wohle der Nation. 

Bio: Şeyda Kurt studierte Philosophie und Romanistik sowie Kulturjournalismus in Köln, Bordeaux und Berlin. Als freie Journalistin schreibt sie unter anderem für den Zeit Verlag und war Kolumnist*in beim Theaterfeuilleton nachtkritik.de. Im April 2021 erschien ihr Sachbuchbestseller „Radikale Zärtlichkeit – Warum Liebe politisch ist“, in dem sie Liebesnormen im Kraftfeld von Kapitalismus, Kolonialismus und Patriarchat untersucht. 2023 ist Kurts zweites Sachbuch erschienen: „Hass. Von der Macht eines widerständigen Gefühls“.

Die Autorin Şeyda Kurt
© Copyright Thomas Spies
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