Osteuropa-Historiker Wolfgang Eichwede

„Wir werden sehr bittere Zeiten erleben“

37:20 Minuten
Der Osteuropa-Historiker Wolfgang Eichwede blickt nachdenklich zur Seite.
Schmuggelte Dokumente von Ost nach West: der Historiker Wolfgang Eichwede. © picture-alliance/ dpa / Ingo Wagner
Moderation: Ulrike Timm · 10.06.2022
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Gorbatschow kennt er persönlich, vor Putin warnte er früh: Der Osteuropa-Historiker Wolfgang Eichwede hat ein Archiv des kritischen Denkens im ehemaligen Ostblock aufgebaut, aber auch zum Kunstraub der Nazis im Osten geforscht. Jetzt wird er 80.
„Ich gehöre zu den zutiefst Deprimierten“, sagt Wolfgang Eichwede mit Blick auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Der Historiker und Osteuropa-Experte hat Russland und zuvor die Sowjetunion unzählige Male besucht. Putins Russland erlebt er als ein Land, „das sich jeglichem Wandel widersetzt“ und vom Hass gegen die Außenwelt lebt. Putin gehe davon aus, „dass er durch Gewalt an Macht gewinnt“. sagt Eichwede.

Frühe Warnung vor Putin

Vor über zwanzig Jahren, als ein Mosaik des Bernsteinzimmers zurück nach Moskau gebracht wurde, hat der Historiker Putin einmal persönlich getroffen. Der sei schon damals ein „eiskalter Mann“ gewesen, „der nur seine eigene Welt kannte“.
Schon früh, lange vor der Besetzung der Krim, hat Eichwede vor Putin gewarnt. Der sich immer weiter entfesselnde Nationalismus und die Repressalien gegen kritische Stimmen im Land bestätigen den Historiker in seiner Einschätzung. Heute stelle sich die Frage, wie die Antwort auf einen Mann lauten könne, „der von der Konfrontation lebt. Der von Gewalt und Krieg lebt“. Denn sicher sei: „Er will die Ukraine nicht mehr gewinnen, er will sie niederschlagen.“
Von der Möglichkeit, sämtliche Brücken zu Russland abzureißen, hält Wolfgang Eichwede aber auch nichts. Es gehe nun darum zu fragen: „Wie können wir subversive, kritische Stimmen in Russland im Gespräch mit uns halten, ohne uns an den russischen Staat zu verkaufen?“

Der Historiker als Schmuggler

Mit kritischen Stimmen in Ländern des ehemaligen Ostblocks hat sich Wolfgang Eichwede beinah sein gesamtes Arbeitsleben beschäftigt. In den 1970ern kam er in Kontakt mit tschechischen Bürgerrechtlern, lernte später auch Dissidenten in Polen, Ungarn und der Sowjetunion kennen.
An der Universität Bremen gründete er als junger Professor die Forschungsstelle Osteuropa und baute ein Archiv mit Schriften unabhängigen und kritischen Denkens in den sowjetischen und mittelosteuropäischen Diktaturen auf. Heute umfasst es weit mehr als 100.000 Dokumente: Artikel und Aufsätze, Flugblätter und Plakate. Auch ganze Nachlässe von Dissidenten wie der von Lew Kopelew sind darunter.
Teilweise schmuggelte der Historiker die Dokumente selbst in den Westen – etwa, indem er im Zug von Budapest nach Wien die Spiegel in den Toiletten abschraubte und sie dahinter versteckte, bis er sie in Österreich wieder ans Licht beförderte.

„Eine gänzlich andere Welt“

1942 am Bodensee geboren, konnte Russland eigentlich kaum weiter entfernt sein. Trotzdem interessierte Wolfgang Eichwede sich früh für diese „gänzlich andere Welt“. Als Heranwachsender habe er die Sowjetunion als ein Land mit einem "schrecklichen" politischen System gesehen.
Die Lektüre von Pasternak und Dostojewski eröffnete ihm jedoch eine weitere Perspektive, die ihn fortan in einer Spannung leben ließ, „die mich neugieriger und neugieriger machte“.
Mit Anfang zwanzig reiste er zum ersten Mal in die Sowjetunion, besuchte Moskau und Kiew und badete nahe Mariupol im Asowschen Meer. Er sei mit dieser Welt „streitend und tief beeindruckt“ in Berührung gekommen, berichtet er.
Losgelassen hat sie ihn nie wieder.
Am Vorabend seines 80. Geburtstag wünscht sich der Historiker nun, erneut nach Moskau zu reisen und durch das Archiv der inzwischen verbotenen Menschenrechtsorganisation Memorial zu streifen, in dem er so viele Arbeitsstunden verbracht hat. Die Hoffnung aufgeben, dass das noch einmal möglich sein wird, will er nicht. Doch bis dahin, sagt er, "werden wir sehr, sehr bittere Zeiten erleben“.
(era)
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