Michaela Coel: "Misfits - ein Manifest"

Über eine große Tacheles-Rede an die TV-Branche

07:21 Minuten
Auf schwarzem Hintergrund steht in weiß der Autorinnenname Michaela Coel und in gold-gelb. "Misfits" sowie in kleineren Lettern "Ein Manifest"
© Ullstein

Michaela Coel

Übersetzt von Dominique Haensell

"Misfits. Ein Manifest"Ullstein, Berlin 2022

128 Seiten

16,99 Euro

Von Bettina Baltschev · 05.02.2022
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Eine schwarze englische Schauspielerin redet Tacheles: Auf einem Branchentreffen spricht Michaela Coel offen und schonungslos von ihrer Herkunft aus armen Verhältnissen und vom Leben als Außenseiterin. Ein Weckruf nicht nur für die TV-Branche.
Am 23. August 2018 hält Michaela Coel die Rede ihres Lebens, mit gerade 31 Jahren. Fast eine Stunde lang spricht die Autorin und Schauspielerin vor 4.000 Vertretern der Fernsehbranche, die anfangs noch herzlich lachen und applaudieren, doch nach und nach immer stiller werden.

Genese der James MacTargett Lecture

Man kann sich das ansehen, die James MacTargett Lecture auf dem Edinburgh International Television Festival ist als Youtube-Video jederzeit abrufbar und es ist eindrucksvoll zu sehen, welche Ruhe und Kraft die junge Frau ausstrahlt.

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In ihrem Buch „Misfits. Ein Manifest“ lässt uns Michaela Coel nun auch am Entstehungsprozess ihrer Rede teilhaben. Sie erzählt, wie sie lange nach den richtigen Worten sucht, wie sie ihre Sätze immer wieder umformuliert und sie ihren Vortrag unter Tränen einübt: "Im Laufe der Wochen dringe ich etwas tiefer in mein Unbewusstes und versuche, mein Leben und meine Karriere noch aufmerksamer zu reflektieren. Der Ton meines Vortrags verändert sich. Ich lese frühere Entwürfe und empfinde sie als dünn, naiv und entlarvend. Wie kann ich offen über Vergewaltigung, Berufsvergehen und Armut sprechen und dabei dennoch so gefasst sein? Es wirkt, als würde ich die Wahrheit sagen und gleichzeitig vor ihr davonlaufen."

Allesamt Misfits

Als sie die Rede schließlich hält, läuft Michaela Coel nicht mehr davon. Sie macht das, was sie am besten kann und mit ihren erfolgreichen Serien "Chewing Gum“ und "I May Destroy You“ bereits bewiesen hat. Sie erzählt ihre Geschichte. Doch diesmal nicht in Dialogen und Bildern, diesmal in einfachen und berührenden Worten.
In einer Sozialwohnungssiedlung mitten in der City von London wächst das hochbegabte Mädchen auf und findet früh Anschluss an eine Jugendtheatergruppe. Dort ist sie zwar die einzige schwarze Person, aber ihrem Spieltrieb kann sie freien Lauf lassen. Im katholischen Mädchengymnasium wird sie wegen ihrer Hautfarbe und ihrer großen Lippen gemobbt, doch hier ist sie immerhin nicht mehr allein.
"Meine Freundinnen waren alle Misfits, eine riesige Bande von im kommerziellen Sinne unattraktiven, wunderschönen Außenseiterinnen, die wiederum den Mainstream unattraktiv fanden", schreibt sie. "Von außen waren wir schwer auseinanderzuhalten, aber im Inneren unterschieden wir uns durch Namen und Wesen."

Das eigene Stück "Chewing Gum Dreams"

Mit diesen Freundinnen gründet Michaela Coel eine Mädchenband, für die sie selber die Texte schreibt. Sie bemerkt, dass ihr das Geschichtenerzählen liegt und baut es aus. Sie besucht die Schauspielschule, ist wieder die einzige Schwarze und muss feststellen, dass für sie andere Maßstäbe gelten als für ihre weißen Mitstudierenden.
Weil sie nicht die Rollen bekommt, die sie sich wünscht, schreibt sie ihr eigenes Stück, "Chewing Gum Dreams“ Kaugummi-Träume, aus dem später ihre erste Fernsehserie hervorgehen wird. Coel beschreibt, wie man ihr anfangs Co-Autorinnen zur Seite stellt und die Serie erst einmal im Onlineprogramm versteckt, wohl um die Fernsehzuschauer nicht zu verschrecken.
Während der Produktion ihrer Serie macht sie die verstörende Erfahrung, dass fünf schwarzen Schauspielerinnen genauso viel Garderobenraum zugestanden wird wie einer weißen. Immer wieder begegnet sie dem Satz "so läuft das eben“, als wenn Diskriminierung eine Gesetzmäßigkeit wäre, die sich nicht ändern ließe.

Schweigen für den Erfolg

Allein diese schmerzhaften Erfahrungen hätten die Rede von Michaela Coel schwerwiegend genug gemacht. Aber sie prangert noch eine Ungeheuerlichkeit der Film- und Fernsehbranche an, die seit der MeToo-Bewegung leider kaum noch verwundert, aber hier noch einmal sehr konkret wird.
"Ich arbeitete über Nacht in den Büros der Produktionsfirma; ich musste um sieben Uhr morgens eine fertige Folge einreichen. Ich machte eine Pause und traf einen guten Freund, der in der Nähe war, auf einen Drink. Ich kam wieder zu Bewusstsein und tippte die zweite Staffel in die Tastatur, viele Stunden später. Ich hatte Glück. Ich hatte einen Flashback. Es stellte sich heraus, dass ich von Fremden sexuell missbraucht worden war. Die ersten, die ich nach der Polizei anrief, noch vor meiner eigenen Familie, waren die Produzent*innen."
Deren Reaktion ist entlarvend. Statt den Fall öffentlich zu machen, wird er verschwiegen, um die Abläufe nicht zu stören und den Erfolg der Serie nicht zu gefährden.

Der Branche den Spiegel vorgehalten

Was sich Michaela Coel schließlich wünscht, ist nicht die Abschaffung von Diskriminierung, Ungleichheit und Sexismus. Dafür ist sie zu klug und zu realistisch. Was sie stattdessen einfordert, ist Transparenz. Nur mit Transparenz habe das Haus, als das sie die Film-Branche beschreibt, eine Zukunft. Dieses Haus, das ja auch ihres ist, müsse Raum bieten für alle menschlichen Perspektiven, nicht nur vor, sondern auch und gerade hinter der Kamera.
Ob „Misfits“ von Michaela Coel tatsächlich ein Manifest ist, als das es nun verkauft wird, mag man hinterfragen. Sie gibt keine Ziele und Losungen aus. Stattdessen hält sie der Film- und Fernsehbranche einen Spiegel vor und macht ihre persönlichen Erfahrungen zum Gradmesser. Sie zeigt sich verletzbar und das ist eine Kraft, die weit überzeugender ist als jede Anklage, jedes Pamphlet.

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