Michael Winterhoff: "Deutschland verdummt"

Abrechnung mit dem System Schule

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Cover des Buchs "Deutschland verdummt. Wie das Bildungssystem die Zukunft unserer Kinder verbaut" von Michael Winterhoff vor einem Hintergrund mit orangener Aquarellfarbe.
Der Kinderpsychiater Michael Winterhoff empfiehlt die Pädagogik der 1960er- und 70er-Jahre. Klug machen könne die das Land nicht, meint unsere Rezensentin Susanne Billig. © Gütersloher Verlagsanstalt
Von Susanne Billig · 06.07.2019
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Der Kinderpsychiater Michael Winterhoff rechnet mit dem deutschen Bildungssystem ab. Seine Forderungen entstammen der Pädagogik einer fernen Vergangenheit. Sie taugen allerdings nicht für die Zukunft, findet unsere Rezensentin.
Junge Menschen hinken altersgemäßen Entwicklungsschritten um Jahre hinterher, weil das Bildungssystem an ihnen versagt, erklärt Michael Winterhoff in seinem neuen Buch "Deutschland verdummt". Schulen räumen Kindern zu viele Entscheidungen ein, klagt der Kinder- und Jugendpsychiater. Damit bürden sie ihnen eine Rolle auf, die Erwachsene einnehmen müssten. Kindliches Lernen werde auch nicht mehr auf die Person des Lehrers oder der Lehrerin ausgerichtet, obwohl junge Menschen sich nur an Vorbildern entwickeln könnten. Dazu komme der Wahn internationaler Schul- und Kompetenzvergleiche, der einen ganzheitlichen Reifungsprozess in untaugliche Skalen zwinge.

Winterhoff fordert: Frontalunterricht, Autorität, Gehorsam

Michael Winterhoff freut es allerdings auch nicht, wenn Schulen heute der Vielfalt und Individualität ihrer Schülerinnen und Schüler Rechnung zu tragen versuchen, indem sie auf eine Notengebung für Schulanfänger verzichten, auf Förderung setzen statt auf Strafen oder Unterrichtsaufgaben nach Fähigkeiten differenzieren. Er macht sich auch nicht die Mühe, das Bündel ökonomischer, sozialer und digitaler Entwicklungen zu beleuchten, das eine ebenso nervöse, gestresste und unsichere Erwachsenenwelt erzeugt hat wie die Kinder in ihrem Schlepptau. Nein, für Michael Winterhoff fehlt es an "Schule wie früher": Zensuren, Klassenbucheinträge, Nachsitzen, Frontalunterricht, dominante Lehrer, Gehorsam, Ordnung, Pünktlichkeit.
Warum wirkt das Potpourri seiner Beobachtungen und Argumente – wissenschaftliche Studien, Zeitungslektüre, Hörensagen, Privatgespräche, Bauchgefühl, psychiatrische Praxiserfahrung und das, was der Autor unter gesundem Menschenverstand versteht – nicht vielschichtig und engagiert? Weil Michael Winterhoff zwar manchen realen Missstand benennt, die aufgeworfenen Themen dann aber nicht abwägend erörtert, sondern mit dem Hammer seinen Nagel einschlägt. Damit bedient er genau jene übererregte Stimmung, deren Ausflüsse bei Kindern er beklagt.

Angeblich goldene Zeit der Pädagogik von Angst geprägt

Nun hat jeder das Recht, eine Streitschrift zu schreiben. Doch weil es hier um Kinder geht, die sich in bildungspolitischen Debatten nicht zu Wort melden können, muss unterstrichen werden, dass hier ein pädagogischer und bildungspolitischer Laie spricht. Wer in jener angeblich goldenen Zeit der 1960er- und 1970er-Jahre, die Michael Winterhoff beschwört, zur Schule ging, sollte noch wissen, wie das mit dem Lehrer, der Lehrerin als Zentralgestirn des Unterrichts war: Wie viel Angst, Menschenverachtung, Arroganz, Selbstverliebtheit und Langeweile diese mächtige Rolle in die Klassenräume trug. Wie selten es Lehrer gab, die pädagogisch und menschlich umfassend überzeugten. Wie viele Schülerinnen und Schüler in die innere Emigration flüchteten, ganze Schullaufbahnen im Schweigen verbrachten und gnadenlos abgehängt wurden.
Das Bildungssystem mag an vielen Stellen diskussionswürdig und reformbedürftig sein und auch Laien sollten sich in die Debatten darum einmischen, selbstverständlich. Doch wer das Land klug machen möchte mit der Uraltpädagogik von vor 50 Jahren, hat wenig beizutragen.

Michael Winterhoff: "Deutschland verdummt. Wie das Bildungssystem die Zukunft unserer Kinder verbaut"
Gütersloher Verlagsanstalt, Güterloh 2019
192 Seiten, 20 Euro

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