"Mich hat beeindruckt seine Offenheit und seine Neugier"

Peter Härtling im Gespräch mit Frank Meyer · 10.06.2013
"Er war eine unglaublich eindrucksvolle Person, die sozusagen gegen den Wind lief", sagt Schriftsteller Peter Härtling über Walter Jens. Auch die Zuwendung, die er anderen Menschen entgegen gebracht habe, sei eindrucksvoll gewesen, betonte der Schriftsteller.
Frank Meyer: Er war ein guter Ratgeber und ein guter Freund, ich vermisse ihn sehr. Das hat der Theologe Hans Küng vorhin bei uns über seinen Freund Walter Jens gesagt. Gestern ist der Publizist und Rhetorikprofessor im Alter von 90 Jahren gestorben. Jetzt ist der Schriftsteller Peter Härtling für uns am Telefon. Herr Härtling, seien Sie herzlich willkommen!

Peter Härtling: Guten Tag!

Meyer: Herr Härtling, wann sind Sie denn Walter Jens zuerst begegnet?

Härtling: Ich nehme an, in den frühen 60er-Jahren, und später dann bei der Gruppe 47, und danach Jahr für Jahr beim Bachmann-Preis in Klagenfurt.

Meyer: Also immer wieder die Begegnung zwischen Ihnen beiden. Was hat Sie beeindruckt an diesem Mann, also wenn Sie etwas beeindruckt hat?

Härtling: Mich hat beeindruckt seine Offenheit und seine Neugier, die oft verkappt war, aber er war neugierig auf Menschen. Und was mich tief beeindruckt hat, war seine große Bildung. Er war fähig, alles herbeizurufen aus seinem Gedächtnis, und das zeigte sich dann auch, als er Präsident der Berliner Akademie der Künste wurde und sozusagen Verbindungsmann zwischen den einzelnen Abteilungen, zwischen der Baukunst, der Musik, der bildenden Kunst und der Literatur.

Meyer: In dieser Zeit, er war ja von 1989 bis 1997 Präsident der Akademie in Berlin, das war ja auch die Zeit, als West- und Ostakademien zusammengeführt wurden unter seiner Leitung, ein hoch umstrittener Vorgang. Wie haben Sie ihn da erlebt, wie hat er diese Rolle ausgeführt da, als Vereiniger der Akademie?

Härtling: Ich glaube, ohne Walter Jens wäre es zu keiner Vereinigung der Akademien gekommen. Er war entschlossen und entschieden, diese Vereinigung herzustellen. Heiner Müller half ihm dabei. Er wurde - was mich entsetzte - furchtbar angegriffen unter anderem von den Konservativen in Westberlin, aber er ließ sich nicht rausbringen. Wir saßen da oft abends zusammen, er war erschöpft, aber noch immer lustig auf Streit, und das fand ich ganz fabelhaft an ihm, diese ... Er war ja ein kranker Mann im Grunde, er hat schwer unter Atemnot gelitten als Asthmatiker und war manchmal sehr depressiv, und gegen das alles hat er angekämpft und dem allen hat er widerstanden, und es war eine unglaublich eindrucksvolle Person, die sozusagen gegen den Wind lief, wenn man so will.

Meyer: So wie Sie ihn gerade schildern, es gibt ja so ein öffentliches Bild von Walter Jens, wo er rhetorisch geschliffen auftritt, wo er energisch seine Positionen vertritt, wo er eben so als moralische Stimme auftritt. Sie beschreiben ihn jetzt ganz anders, auch viel leiser, zurückgenommener. War das sozusagen die private Seite des Walter Jens?

Härtling: Das war sie wohl auch. Es war die Seite, die neben der großen, manchmal auch groben Rhetorik sehr leise wurde und in Fragen mündete, ganz aufmerksamen Fragen, wie geht es dir denn jetzt, was machst du denn? Und diese Zuwendung, die dieser Mann aufbrachte neben der inneren Spannung, die er besaß, die war eindrucksvoll.

Meyer: Das ist ja gar nicht so natürlich, dass Sie als Autor, als Schriftsteller eine so enge Bindung zu einem Kritiker haben wir Walter Jens. Er hat ja als Autor selbst angefangen, mit 24 Jahren seine erste Erzählung veröffentlicht unter Pseudonym noch und später dann sozusagen die Seiten gewechselt, die Belletristik aufgegeben und ist Kritiker geworden. Jetzt sind Kritiker und Autor nicht gerade geborene Freunde, wie haben Sie ihn denn als Literaturkritiker erlebt?

Härtling: Ich habe ihn in der Gruppe 47 als rhetorischen Kritiker erlebt und als Leser auch, als er in der "Zeit" Kritiken schrieb. Er war einer, der enthusiastisch verreißen konnte und enthusiastisch rühmen. Und dieser Enthusiasmus, dieses Beteiligtsein, diese Leidenschaft, die waren im Grunde nie verletzend. Und deswegen war ich eigentlich nie gekränkt über den Kritiker Jens, sondern bin beteiligt ihm gefolgt.

Meyer: Hat er Sie auch mal verrissen, Herr Härtling?

Härtling: Nein. Er hat einmal ganz wunderbar gesagt, das ist ganz typisch für Jens: Was würdest du sagen, wenn dein Kinderbuch "Oma" länger im Gedächtnis der Leute bliebe wie der "Hölderlin"? Und da sagte ich, na, ich weiß nicht, der "Hölderlin", das wäre mir lieber. Da sagt er, ah, daran kannst du nichts ändern! Und das war er, er hat Spaß auch an dem gehabt.

Meyer: Deutschlandradio Kultur, gestern ist Walter Jens im Alter von 90 Jahren gestorben. Und wir reden über ihn mit dem Schriftsteller Peter Härtling. Sie haben über seine Leidenschaftlichkeit gesprochen, die hatte er offenbar auch im politischen Feld, da hat er auch offene Konflikte nicht gescheut, er ist für seine demokratischen Ideale eingetreten, auch wenn er dadurch mit dem Gesetz in Konflikt geraten ist. Wir haben in dieser Sendung auch schon darüber gesprochen, er hat ja amerikanische Deserteure bei sich versteckt, er hat das amerikanische Atomwaffendepot Mutlangen mit blockiert.

Härtling: Ja, ja.

Meyer: Was haben Sie davon gehalten, von dieser Gesetzesübertretung des Walter Jens?

Härtling: Die war eigentlich damals ganz selbstverständlich und nötig. Die hat auch dafür gesorgt, dass die Zeit sich änderte und dass es zu einer Vereinigung kam, dass die Blöcke aufweichten. Ich glaube, dass das ganz wesentlich war. Würde man die Friedensbewegung, zu der er sich zählte, als Störfaktor, demokratischen Störfaktor verkennen, dann wäre das grundfalsch, auch grundfalsch nach dem Verständnis von Walter Jens.

Meyer: Was so einen Schatten auf seine Stellung auch so als moralisches Gewissen geworfen hat, war die Geschichte mit seiner NSDAP-Mitgliedschaft, die 2003 bekannt wurde. Er sagte ja zuerst, er könne sich nicht daran erinnern, einen Aufnahmeantrag, einen Mitgliedsantrag gestellt zu haben, später hat er dann selbst bedauert, mit diesem Teil seines Lebens nicht offener umgegangen zu sein. Was sagen Sie zu diesem Teil seines Lebens?

Härtling: Das ist schon sehr schwierig, was Sie da fragen. Walter Jens war damals sehr jung. Und den Druck, dem diese jungen Leute ausgesetzt waren, habe ich zum Teil noch als Jüngerer erfahren. Das war für mich die Generation der etwas Älteren, die gerade aus der Schule noch eingezogen wurden, an die Front mussten, sich freiwillig meldeten und so weiter. Ich habe Verständnis für diesen Schritt, aber ich habe kein Verständnis für Verdrängungen. Das hat mich etwas betrübt, dass Walter Jens sagte, als er erklärte, er habe das vergessen. Und ich glaube, dass wir alle, die wir aus dieser Kriegszeit herauskamen, dieses ganze Elend nach dem Krieg - er hat ja darüber geschrieben - erfahren haben, wir alle sollten tunlichst uns prüfen und unsere Vergesslichkeit prüfen.

Meyer: Walter Jens hat ja, Herr Härtling, in den letzten zehn Jahren seines Lebens an einer immer stärker werdenden Demenz gelitten. Was haben Sie in dieser Zeit gedacht, wenn Sie an ihn gedacht haben? Seine Frau hat ja, Inge Jens, hat ja davon gesprochen, dass der Walter Jens, den sie kannte, immer mehr verschwunden ist. Wie haben Sie in dieser Zeit an ihn gedacht?

Härtling: Ich habe oft an ihn gedacht, habe mich oft auch erkundigt bei Freunden von ihm, was er denn treibe und wie es ihm gehe. Und für mich blieb er, das muss ich schon sagen, ganz und gar gegenwärtig, auch gewissermaßen körperlich gegenwärtig, er war da. Er war einer, mit dem ich auch reden konnte.

Meyer: Gestern ist Walter Jens im Alter von 90 Jahren gestorben. Wir haben über seine Erinnerung an ihn gesprochen mit dem Schriftsteller Peter Härtling. Herr Härtling, vielen Dank für dieses Gespräch!

Härtling: Bitte.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.