Meister der Worte

Von Beate Ziegs · 10.06.2013
Er hatte den einzigen Lehrstuhl für Rhetorik in Deutschland inne. Im Gedächtnis bleibt er auch als Literaturhistoriker, Autor und Präsident der Berliner Akademie der Künste. Nach seiner Demenzerkrankung verließ ein vielseitiger linksliberaler Denker das öffentliche Parkett. Nun ist Walter Jens in Tübingen im Alter von 90 Jahren gestorben.
Walter Jens: "Vielleicht wird’s nach 100 Jahren heißen: ‘Jens, Walter Jens - lasse mich nachdenken - ach so ... ’"

... das war doch der Mann, der der "Gruppe 47" angehörte. In den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten das Forum schlechthin für literarische Diskussion und gesellschaftliche Reflexion.

"Wir hatten zu lange große Metaphern gebraucht, um kleine Wahrheiten zu sagen in der Zeit des Nationalsozialismus, und nun sprachen wir ganz einfach und wählten eine Sprache, die entweder ganz präzise oder sehr poetisch war."

"Wir sind radikal! Radikal im Denken!"

Er war der Mann, der Romane zur Verteidigung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung schrieb, Hörspiele und Fernsehspiele, zahllose Essays. Der Mann, der an der Universität Tübingen als Inhaber des einzigen Lehrstuhls für Rhetorik in Deutschland konsequent jene Dichter, Schriftsteller und Philosophen ins Licht rückte, die sich für eine streitbare Demokratie einsetzten.

"Wir Schriftsteller, die wir uns als bürgerliche Demokraten verstehen, sollten die
Behauptung unserer Gegner, dass wir 'radikal' seien, nicht als Beschimpfung, sondern als Ehrenerklärung verstehen. (Applaus) Jawohl, wir sind radikal! Radikal im Denken, und selbstverständlich radikal in der Absage an die Gewalt."

Walter Jens wurde am 8. März 1923 in Hamburg geboren. Ursprünglich wollte er Germanistik studieren. Doch war ihm die Vorstellung zuwider, sich mit völkisch-nationalen Schriftstellern wie Friedrich Griese oder Wilhelm Schäfer herumplagen zu müssen und entschied sich für Altphilologie: Graeca et Latina als Fluchtpunkte, aus denen heraus er Fach- in Sach- und Sach- in Lebensfragen transformieren, verschüttete Ideen zu Leitmotiven seines Denkens und Handelns machen konnte. Homer und Sophokles, Aischylos, Solon oder Euripides wurden zu seinen Lehrmeistern und Weggefährten.

"Ich glaube, dass niemals in der europäischen Literatur das, was der Mensch
sein könnte, so exakt beschrieben worden ist wie im Chorlied der Antigone: ‚Ungeheuer ist viel, aber nichts ungeheurer als der Mensch.‘ Warum? Weil er, so heißt es, ‚weit über Erwarten mit Können und Geist ist, dann aber einmal zum Schlechten und einmal zum Guten hin strebt.‘ Das heißt, die Kluft zwischen dem, was der Mensch kann, und dem, was er leider nicht tut, nämlich sich moralisch zu verhalten, ist gewaltig. Diese Ambivalenz hat mein Leben bestimmt, und darüber nachzudenken hat, denke ich, die Jahre und Jahrzehnte gelohnt."

Große Bandbreite literarischer Formen

Walter Jens setzte sich jedoch nicht nur mit der Antike schriftstellerisch auseinander, sondern übersetzte auch die vier Evangelien des Neuen Testaments und die Offenbarung des Johannes neu. Wie kein anderer wagte er sich tief in die Grenzgebiete zwischen Antike und Gegenwart, zwischen Theologie und Literaturwissenschaft vor. Entsprechend vielseitig war die Bandbreite literarischer Formen, in denen er sich bewegte. Seine Lust am Denken und Fabulieren ließ ihn zum Beispiel kühne "Totengespräche" zwischen Sophokles und Brecht entwerfen. Oder zwischen Heine und Lessing über Nathans Scheitern an der Dialogunfähigkeit seiner Gegner.

"Ich habe mich umgetan auf verschiedenen Feldern. Aber das ist ja auch nicht
zu schwer, denn ich kann nichts anderes als lesen und schreiben. Und das mache ich mit einiger Perfektion, glaube ich. Und das Verbindende in allem - bei den Übersetzungen oder bei den Reden - ist die Begeisterung für die unvergleichliche deutsche Sprache."

Unvergessliche "Treppenreden"

Sein Bekanntheitsgrad als Redner war in den letzten 20 Jahren größer als der des Essayisten und Dramatikers. Unvergessen werden die "Treppenreden" bleiben, die Walter Jens von 1989 bis 1997 als Präsident zunächst der Westberliner Akademie der Künste, dann, ab Oktober 1993, der neugegründeten Akademie der Künste Berlin-Brandenburg hielt:

" "Meine letzte Treppenrede! Wie die Zeit vergeht. Und jetzt soll ich hier irgendeinen Höhepunkt mimen. Das mache ich aber nicht, sondern ich sage nur: Vielleicht wird’s nach Hundert Jahren heißen: ‚Jens, Walter Jens - lasse mich nachdenken - ach so, war das nicht der Mann, der immer so gerne die Treppenreden hielt?‘ (Lachen) "

Der Biograf

Seine Verabschiedung als Präsident war gleichsam eine Zäsur im geistigen Leben Deutschlands. Einer der letzten und zweifelsfrei vielseitigsten linksliberalen Denker verließ das öffentliche Parkett. Allerdings zog sich Walter Jens nicht ganz zurück: Mit seiner Frau Inge Jens schrieb er die beiden Biografien über "Frau Thomas Mann" und "Katias Mutter", beides Bestseller.

Seinen letzten großen Vortrag hielt er am Neujahrsabend 2005 in Aachen über "Die Freude". Danach verlor er zunehmend die Fähigkeit, auf rationaler Ebene zu kommunizieren. Einer der hellsten und wortgewaltigsten Köpfe Deutschlands wurde dement.

So tragisch das Entschwinden des genialen Rhetors in eine Welt jenseits der Sprache auch war, in Erinnerung bleibt seine Argumentationsfähigkeit und stilistische Brillanz, die kaum zu ersetzen ist. Kein nachgerufenes Wort wird dem ehemaligen Meister der Worte gerecht werden können.
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Tilman Jens: "Demenz. Abschied von meinem Vater", Gütersloher Verlagshaus 2009, 144 Seiten