Merkels Mitte

Rezensiert von Moritz Schuller · 14.06.2009
Wer ist die Person, die seit 2005 Deutschland regiert? Zwei neue Bücher über Bundeskanzlerin Angela Merkel versuchen dieser Frage nachzugehen. Die Journalistin Mariam Lau analysiert ihren Modernisierungskurs in der CDU, während Sebastian Graf von Bassewitz und Laurence Chaperon eine Merkel in Bildern zeigen wollen, wie "sie kaum einer kennt".
Es war ein kleiner Moment, und dabei eine Miniatur der neuen Angela Merkel: die Kanzlerin betete in der Dresdner Frauenkirche mit Barack Obama für den Frieden in der Welt. Die alte Angela Merkel hatte ihren religiösen Glauben stets als "Privatsache" bezeichnet, ihr wäre eine solche Geste als billiges Politpathos zuwider gewesen.

Die neue Angela Merkel empfängt "Spiegel"-Reporter für eine Home Story und erzählt bei Maischberger, dass sie am 9. November 89 mit einer Freundin in der Sauna saß. Sie redet über das Behindertenheim in Ostdeutschland, neben dem sie aufgewachsen ist, und dass die Stasi sie einmal anwerben wollte, findet sie plötzlich auch erwähnenswert. Sie ist so offenherzig und direkt wie nie zuvor. Die neue Angela Merkel beginnt gerade einen amerikanischen Wahlkampf, in dem sie vor allem sich selbst präsentiert und in dem der Wähler ihre Partei kaum zu spüren bekommen soll.

Die Partei von Angela Merkel heißt CDU und die ist, wie die Journalistin Mariam Lau in ihrem Buch behauptet, die "letzte Volkspartei" des Landes. Mariam Laus These lautet, dass die CDU erfolgreich ist, weil sie sich von alten, überholten Positionen getrennt und sich neuen Themen geöffnet habe. Lau nennt das die "Modernisierung der CDU" und lobt in diesem Zusammenhang die Familienpolitik von Ursula von der Leyen und die Islamkonferenz Wolfgang Schäubles.

Umgekehrt hält Lau den Ausschluss des konservativen CDU-Bundestagsabgeordneten Martin Hohmann oder auch Merkels Kritik am Papst in der Affäre um den Holocaust-Leugner Williamson für notwendige Schritte im Sinne dieser Modernisierung. Für Lau ist diese moderne CDU die Partei der Integrationspolitiker, der berufstätigen Mütter und der Klimaschützer, es ist eine CDU, die auf Distanz zu Kirche und Konservativen geht. "Merkels CDU ist dabei, einen ,dritten Weg’ zu finden", schreibt Lau. Ausdruck dieses Weges sei unter anderem die schwarz-grüne Koalition in Hamburg. Jamaika, man spürt es, ist Mariam Lau nicht unsympathisch.

Dass die Vorsitzende ihre Partei mit einem Pragmatismus, der "prinzipienfester" sei als manche Leitkulturen, zu verändern vermag, ist vor allem möglich, argumentiert Lau, weil Merkel all das, was die Bundesrepublik in den vergangenen 40 Jahren geprägt hat, nicht miterlebt habe. Sie lässt sich nicht in das vertraute politische Koordinatensystem einsortieren, in dem es entweder "Verharmloser der NS-Diktatur oder 68er oder Renegaten oder Transatlantiker" gebe:

"Die DDR hatte kein 1968. Die Parteivorsitzende kann mit den Skandaldebatten um die Vergangenheitsbewältigung, die sexuelle Revolution oder eben den Feminismus einfach nichts anfangen."

Angela Merkel kann den Leuten also geben, was die haben wollen, weil sie in den meisten gesellschaftspolitischen Fragen unbefangen sei. Das komme auch deshalb so gut an, meint Lau, weil die Zeiten ohnehin so seien: skeptisch gegenüber großen Ideen. Also ideale Merkel-Zeiten.

Gegen den Vorwurf, Angela Merkel vernachlässige das konservative Element, nimmt Mariam Lau die Vorsitzende in Schutz. Einerseits hätten sich die politisch-sozialen Milieus der Parteien so stark angeglichen, dass eine klare Parteiidentität kaum noch herzustellen sei. Und andererseits hindere die Parteivorsitzende niemanden daran, öffentlich Profil zu zeigen:

"... Es ist nicht Merkel, die sich vor die Kirchen des Landes postiert und Unionsmitglieder am Betreten hindert. Kein CSU-Vorsitzender hat von ihr die Weisung erhalten, sich nicht mehr gegen die Abtreibung zu äußern. Der Erosionsprozess kommt von innen, nicht von außen, auch wenn viele das nicht wahrhaben wollen."

Mariam Lau schreibt es nie ausdrücklich, aber der Eindruck entsteht gleichwohl, dass es aus ihrer Sicht Angela Merkel ist, die diesen Modernisierungsprozess der CDU aktiv betreibt. Doch dafür kommt die Parteivorsitzende in dem Buch seltsam selten vor. Lau beschäftigt sich ausgiebig mit Ursula von der Leyen, ohne deutlich zu machen, wie weit deren Politik mit Merkel oder der Partei abgestimmt ist. Der Integrationspolitiker Schäuble, das räumt Lau ein, hat eine schwierige Beziehung zu Merkel. Wie viel Merkel also in Schäubles Gesellschaftspolitik steckt, ist unklar. Annette Schavan wird sogar ausdrücklich mit den Worten zitiert: Merkel "hat nie Druck ausgeübt".

Wie die Vorsitzende, bei der selbst die Autorin eine "gesellschaftspolitische Leidenschaftslosigkeit" konstatiert, also diesen Modernisierungsprozess aktiv vorantreibt, bleibt bei Mariam Lau ein Geheimnis. Denn mit gleicher Berechtigung könnte man die vermeintliche Modernisierung als Verwahrlosungsprozess einer Partei beschreiben, der nur deshalb als Erfolg erscheint, weil er weniger dramatisch verläuft als bei der SPD. Von einem dritten Weg schwärmt bei der SPD oder auch der britischen Labour Party inzwischen niemand mehr. Er hat zu viele Stimmen gekostet.

Zudem erweist sich die politische Unbefangenheit Merkels oft – objektiv - als Unberechenbarkeit, auch als Opportunismus. Heute muss der CDU-Ortsvorsitzende, der einst vorm Edeka für den marktliberalen Kurs von Merkel gekämpft hat, ihren ordnungspolitisch waghalsigen Einsatz für Opel erklären. Derselbe Ortsvorsitzende, der lange Merkels Obsession mit dem Weltklima verteidigt hat, soll nun vermitteln, warum sie in der Krise das Thema nicht mehr interessiert.

Aber gerade weil hier ein ideologischer, intellektueller oder auch machttaktischer Rahmen nicht zu erkennen ist, kann man möglicherweise sagen, dass Angela Merkel die CDU nach ihrem Ebenbild formt: dass sie die Partei für alle erfolgversprechenden gesellschaftlichen Strömungen öffnet und aus der CDU eine Partei macht, in der sich alle wiederfinden können - oder auch keiner. Sie wäre dann nicht die letzte Volkspartei, wie Lau schreibt, sondern die letzte Einheitspartei Deutschlands.

In jedem Fall erscheint es fast widersinnig von einer Merkel-CDU zu reden: Anders als Helmut Kohl, der seine Politik nach der Mitte der Partei ausgerichtet hat, richtet Merkel ihre Politik nach der Mitte der Gesellschaft aus. Die Partei folgt nur. Kohl war ohne die CDU nichts, heute ist die CDU kaum mehr als Merkel. Kohl hatte seine Hand am Puls der Partei, Merkel hat stattdessen die Partei zur Ader gelassen.

Die neue Merkel hat ein präsidiales Verhältnis zur CDU. Auch deshalb kann sich der einfache CDU-Ortsvorsitzende seine Partei-Chefin nun in einem Bildband betrachten, der Angela Merkel zeigen will, wie "sie kaum einer kennt". Merkel mit Kindern, Merkel als Kind, Merkel mit der Queen, Merkel mit Sarkozy, Merkel mit Bono, Merkel mit dem Koch im Kanzleramt, Merkel mit Obama, Merkel allein am Ostseestrand, Merkel in schwarz, in grün, in orange, in Jeans. Merkel mit Handy, Merkel mit Arnold Schwarzenegger. Alles in dem weichen Licht ihrer Hausphotographin Laurence Chaperon, die, wie sie sagt, Politiker nicht "abschießen" will.

Das Buch ist eine hagiographische Bildersammlung, in dem die Partei kaum vorkommt, Merkels bisher so unsichtbarer Ehemann aber umso mehr. Sogar ihre Eltern, Horst und Herlind Kasner, die Merkel immer unter Verschluss gehalten hat, werden nun der Öffentlichkeit angeboten. Der alten Angela Merkel wäre so ein Buch peinlich gewesen. Die neue Angela Merkel, die übrigens eine begeisterte Hobbygärtnerin sein soll, lässt sich darin mit folgenden Worten zitieren:
"Wenn es donnerte, blitzte oder in Strömen goss, habe ich Demut vor den Gewalten der Natur erfahren. Ich hatte Hochachtung davor, wie gut viele Arten angepasst sind, wie es die Natur schafft zu überleben."

Sich von Wolfgang Joop "Stil" bescheinigen zu lassen und von Guido Westerwelle "Charme und Witz", das kann nur jemand wagen, der bei der Wahl auf einen so "profund unspektakulären" (NZZ) Gegenkandidaten trifft. Gegen Steinmeier kann man offenbar sogar mit einem solchen Bildband punkten.

Diese neue Angela Merkel braucht keine Partei mehr. Auch die CDU nicht. Das einzige, was ihr jetzt noch fehlt, jeder amerikanische Wahlkampfexperte weiß das, ist ein Hund. Dann werden die Bilder noch schöner.

Mariam Lau: Die letzte Volkspartei. Angela Merkel und die Modernisierung der CDU
DVA, München 2009

Sebastian Graf von Bassewitz / Laurence Chaperon (Fotos): Angela Merkel. Das Porträt
Droemer Verlag, München, 2009
Mariam Lau: Die letzte Volkspartei
Mariam Lau: Die letzte Volkspartei© DVA
Sebastian Graf von Bassewitz, Laurence Chaperon: Angela Merkel. Das Porträt
Sebastian Graf von Bassewitz, Laurence Chaperon: Angela Merkel. Das Porträt© Droemer Verlag