"Menschen pilgern aus biografischen Gründen"

Christian Kurrat im Gespräch mit Stephan Karkowsky · 11.04.2013
Wer pilgert, will das Grab eines angebeten Heiligen besuchen – so die landläufige Vorstellung. Doch viele Pilger auf dem Jakobsweg sind eher aus persönlichen Gründen unterwegs, sagt der Sozialwissenschaftler Christian Kurrat.
Stephan Karkowsky: Über den Boom des Pilgertourismus kann uns der Sozialwissenschaftler Christian Kurrat Auskunft geben von der Fernuniversität Hagen. Herr Kurrat, guten Tag!

Christian Kurrat: Guten Tag!

Karkowsky: Natürlich fällt jedem sofort Hape Kerkelings Buch ein, "Ich bin dann mal weg". Aber war es denn wirklich dieser Bestseller, der den modernen Pilgerboom erst ausgelöst hat?

Kurrat: Zumindest für Deutschland können wir von einem sogenannten Kerkeling-Effekt sprechen. Das Buch ist 2006 erschienen, und auch wenn davor viele Jahre die deutschen Pilgerzahlen recht hoch lagen, gab es zum Jahre 2007 einen eklatanten Ansprung von 70 Prozent mehr Pilger, die aus Deutschland nach Spanien zum Jakobsweg gereist sind.

Karkowsky: Und dieser Anstieg ist nicht, nachdem das Buch aus den Bestseller-Listen verschwunden ist, wieder abgeebbt?

Kurrat: Nein, die Zahlen halten sich konstant bei rund 15.000 jährlich, und das seit 2007 konstant.

Karkowsky: Sie sind mit Patrick Heiser zusammen Autor des Sachbuchs "Pilgern gestern und heute. Soziologische Beiträge zur religiösen Praxis auf dem Jakobsweg" und haben sich selbst mit dem Warum beschäftigt. Also, was treibt Menschen auf einen Pilgerpfad? Ich würde sagen, so schwer kann die Antwort nicht sein, die wollen das Grab eines angebeteten Heiligen besuchen, oder bin ich da auf dem Holzweg?

Kurrat: Ja, das könnte man zunächst vermuten. Also, zunächst ist es ja ein erstaunliches Phänomen, dass in einer Gesellschaft die durch immer mehr Kirchenaustritte und immer weniger Gottesdienstbesuche gekennzeichnet ist, immer mehr Menschen zum Grab eines Heiligen pilgern. Und in meiner Doktorarbeit habe ich die Frage gestellt, was treibt Menschen heute dazu, über fünf oder sechs Wochen aus dem Alltag auszutreten und eine körperlich hoch anspruchsvolle Langstreckenwanderung durchzuführen?

Karkowsky: Das war eine empirische Untersuchung, die Sie durchgeführt haben?

Kurrat: Ganz genau, ich habe narrative Interviews mit Pilgern aus aller Herren Ländern geführt, vorzugsweise allerdings mit deutschen Pilgern. Und das zentrale Ergebnis meiner Untersuchung ist, dass ein biografischer Anlass Menschen dazu bringt, auf dem Jakobsweg zu pilgern.

Karkowsky: Das müssen Sie mir erklären!

Kurrat: Nun, ich habe fünf Haupttypen entwickelt, also fünf Motive, warum Menschen auf dem Jakobsweg pilgern. Menschen, die sich in der letzten Lebensphase befinden, pilgern auf dem Jakobsweg, um ihr Leben zu bilanzieren. Die verbinden also die fünfwöchige einsame Wanderung mit einer geistigen Rückschau auf ihre Lebensgeschichte und ordnen negative wie positive Erfahrungen dort ein. Das ist die biografische Bilanzierung.

Dann gibt es einen weiteren Typ von Menschen, die aufgrund einer Krise pilgern gehen, also weil beispielsweise jemand aus dem nahen Umfeld gestorben ist oder weil eine heimtückische Krankheit sie heimgesucht hat. Eine dritte Gruppe, ich nenne sie die biografische Auszeit, das sind Menschen, die in ihrem Alltag sehr viel Stress erfahren und die den Jakobsweg mit einer Sinnsuche und mit einer Auszeit von den alltäglichen Anforderungen verbinden. Dann gibt es eine vierte Gruppe, das sind sehr viele Menschen, die sich in einer Übergangsphase in ihrem Leben befinden, also beispielsweise nach der Schule und vor dem Studium oder auch nach dem Beruf und vor dem Eintritt ins Rentnerdasein.

Das sind Phasen, für die es in der heutigen Gesellschaft keine Rituale gibt, und diese Menschen suchen sich ein eigenes Ritual, nämlich das Pilgern, um diesen Übergang zu gestalten. Und eine fünfte Gruppe, das ist der biografische Neustart. Kennzeichnend für sie ist, dass eine lange Leidensphase bewusst abgeschlossen ist, ein selbst gewählter Bruch im Lebenslauf vorliegt. Also beispielsweise Menschen, die ihren Job gekündigt haben oder sich von ihrem Partner trennen, die einen Weg suchen, das zu verarbeiten. Und das machen diese Menschen auf dem Jakobsweg.

Karkowsky: Sie hören Christian Kurrat von der Fernuniversität Hagen, der über den Boom des Pilgertourismus promoviert. Herr Kurrat, ich bin schockiert, ich höre nicht ein Mal von Ihnen, dass dort Menschen auf den Pilgerweg gehen aus religiösen Gründen!

Kurrat: Also, die religiösen Pilger, die gibt es weiterhin, ganz bestimmt. Aber eine biografische Krise oder eine biografische Bilanzierung, die kann ich durchführen, indem ich an den katholischen Gott glaube, ich kann aber auch mein Leben bilanzieren als Atheist oder als interkonfessioneller Christ.

Karkowsky: Hat Sie das denn interessiert, wie viele von den modernen Pilgern überhaupt noch an Gott glauben? Denn Sie haben es ja auch erwähnt, unsere Gesellschaft säkularisiert sich, der Münsteraner Historiker Thomas Großbölting hat dafür auch den Ausdruck Entkirchlichung geprägt und in wenigen Jahren, sagt er, wird es in Deutschland keine christliche Mehrheit mehr geben. Gilt das auch für die Pilgerscharen, dass da zunehmend Nichtgläubige auf der Suche sind?

Kurrat: Das gilt auch für den Jakobsweg, ja. Es gibt Atheisten oder auch Muslime, die auf dem Jakobsweg pilgern. Allerdings würde ich da keine Quantifizierung vornehmen.

Karkowsky: Warum nicht?

Kurrat: Da ging es in meiner Studie nicht drum, sondern mich interessierte die soziale Breite dieses Phänomens, keine Quantifizierung.

Karkowsky: Was glauben Sie denn, warum diese Pilger ein Angebot brauchen? Also so etwas wie, hier ist der Jakobsweg, hier kannst du gehen? Also das Gefühl, hier sind schon vor Hunderten von Jahren Menschen gepilgert? Warum wandern die nicht einfach irgendwo?

Kurrat: Nun, der Jakobsweg ist ein einmaliges Format für diese Menschen. Und das, was sie dort auf dem Jakobsweg erleben, was ihnen dort begegnet, das finden sie nirgendwo anders.

Karkowsky: Nämlich?

Kurrat: Auf dem Jakobsweg finden sie eine hervorragende Infrastruktur mit über 500 Herbergen, was es ihnen ermöglicht, eine Reise ohne großen Plan anzutreten. Sie können morgens entscheiden, ich laufe heute sieben Kilometer oder auch 20 Kilometer, die Infrastruktur ermöglicht es ihnen, dort Halt zu machen, wo sie Halt machen möchten.

Karkowsky: Und Sie beschreiben auch typische Pilgerrituale. Was für Rituale sind das?

Kurrat: Das eine ist auf dem höchsten Punkt des Weges, am sogenannten Cruz de Ferro, zu Deutsch Eisernes Kreuz. Dort legen die Pilger schon seit vielen Jahrzehnten einen aus der Heimat mitgebrachten Stein nieder, mit dem symbolisch Sorgen, Sünden oder auch Ängste abgelegt werden sollen. Und dieses Stein-Ablegen zeigt in ganz besonderer Weise die biografische Veranlassung des Pilgerns. Der biografische Grund, warum die Menschen sich auf den Jakobsweg begeben, wird dort symbolisch abgelegt.

Karkowsky: Über den Boom des Pilgertourismus der Sozialwissenschaftler Christian Kurrat von der Fernuniversität Hagen. Heute Nachmittag wird in Minden ein neuer Abschnitt des deutschen Jakobsweg eröffnet. Herr Kurrat, vielen Dank!

Kurrat: Sehr gerne!


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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