Mely Kiyak: "Frausein"

Eine sanfte Rückeroberung des weiblichen Ich

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Das Cover von Mely Kiyaks „Frausein“ vor Deutschlandfunk Kultur Hintergrund.
Mely Kiyaks Spurensuche zielt nicht auf verallgemeinerbare Thesen, sondern auf das Individuelle. © Hanser / Deutschlandradio
Von Ursula März · 17.08.2020
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Mely Kiyaks Buch "Frausein" ist kein Beitrag zum aktuellen Genderdiskurs. Stattdessen handele es sich um eine individuelle Expedition in das biografische und seelische Gebiet ihres persönlichen Frauseins, lobt unsere Kritikerin.
Dieses Buch ist eine angenehme Enttäuschung. Es heißt "Frausein" und da sich Mely Kiyak unter anderem als Kolumnistin und Kommentatorin gesellschaftspolitischer Themen einen Namen gemacht hat, erwartet man einen Beitrag zum aktuellen Genderdiskurs. Genau das verweigert Kiyak auf wohltuende Weise. Sie stellt ihren Werdegang als sogenannte Gastarbeitertochter, als Bildungsaufsteigerin mit Abitur, Studium am Leipziger Literaturinstitut und publizistischer Karriere nicht in den Dienst einer soziologisch-autobiografischen Studie - vergleichbar Didier Eribons Bestseller "Rückkehr nach Reims" - genauso wenig in den Dienst feministischer Theoreme.
Kiyaks Spurensuche zielt nicht auf verallgemeinerbare Thesen, sondern auf das Individuelle. Auf die Genese eines weiblichen Ichs, das sich jenseits der üblichen Emanzipationskoordinaten nichts anders wünscht als eine frei gewählte Existenz. Die Existenz einer Frau, die es sich erlaubt, alles zurückzustellen hinter der Sehnsucht nach einem Leben, in dem Lesen und Schreiben im Vordergrund stehen. So heißt der radikale, wenn auch zurückhaltend vorgebrachte Kernsatz dieses Buches: "Auf die ehrlich an mich selbst gestellte Frage, womit ich am zufriedensten und ruhigsten war, lautet die Antwort: Mit mir. Einfach nur mit mir".

Nachlassende Sehschärfe als Motiv

Die erzählerische Klammer des knapp 130 Seiten umfassenden Textes ist eine Augenerkrankung. Etwas stimmt nicht, merkt die Ich-Erzählerin zu Beginn. Sie nimmt Gegenstände immer verschwommener wahr, kann das eigene Gesicht kaum mehr im Spiegel erkennen. Damit aber kommt ihr ein routinierter Reflex abhanden: Ihr Bild zu vergleichen mit der Vorstellung davon, wie es zu sein hat.
Im Motiv der nachlassenden Sehschärfe - die nach einer kleinen Odyssee durch Arztpraxen am Ende wiederkehrt - liegt der poetologische Schlüssel von Kiyaks Expedition in das biografische und seelische Gebiet ihres Frauseins. Sie erwandert es ohne politische Kompassnadel, ohne die Zielvorgabe einer typischen Einwanderungs- und Integrationsgeschichte.
Während der Lektüre merkt man bald, dass man mit seinen vorgefassten Erwartungen an eine solche Geschichte in die Irre geht. Schon der Vater von Kiyak, die 1976 in Sulingen geboren wurde, entspricht nicht dem Stereotyp des türkisch-kurdischen Patriarchen. Er unterstützt die schriftstellerischen Ambitionen der Tochter nach besten Kräften. Die türkischen Cousinen wiederum liefern dem Buch herrliche Dialoge, in denen es bevorzugt um Sex geht. Keineswegs naiv, sondern erfahrungsgestützt und selbstbewusst.

Rückeroberung aus der Macht der Normen

Als Opfer des männlichen Geschlechts kann und will sich die Ich-Erzählerin nicht betrachten. Wogegen sie sich wehrt, ist vielmehr das strapaziöse Ideal der modernen, alles wollenden, alles könnenden Frau, die sich zwischen Familie, Karriere, Freundschafts- und Egopflege zerreißt.
Diesem äußerlich kleinen, in klarer und melodischer Sprache verfassten Buch ist etwas Großes gelungen: Die sanfte Rückeroberung des weiblichen Ich aus der Macht der Normen. Nichts macht Mely Kiyak glücklicher als allein am Meer spazieren zu gehen. Wenn man darin eine Botschaft finden wollte, dann haben wir auf sie gewartet.

Mely Kiyak: Frausein
Hanser Verlag, München 2020
128 Seiten, 18 Euro

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