Meinung

So ungerecht geht es in Deutschland zu

04:16 Minuten
Grafik: Ein älteres Ehepaar schaut auf ein zerbrochenes Sparschwein.
Trotz einer Vielzahl staatlicher Hilfen geraten gerade Arbeitende im Niedriglohnsektor aufgrund zu hoher Abgaben in Armut, kritisiert Manuel Schechtl. © Imago / Ikon Images / Gary Waters
Von Manuel Schechtl |
Audio herunterladen
In Deutschland muss eine Friseurin, die an der Armutsgrenze verdient, einen größeren Anteil ihres Arbeitslohns für Krankenversicherungsbeiträge bezahlen als der Oppositionsführer im Bundestag. Das ist nicht gerecht, aber Realität im Sozialsystem.
In Deutschland wächst die Kluft zwischen den Einkommensschichten. Entgegen der landläufigen Meinung, wonach insbesondere finanziell leistungsstarke Haushalte unzumutbar zur Kasse gebeten werden, bezahlen einkommensschwache Schichten einen vergleichbar großen Anteil ihres Einkommens für Abgaben und Steuern.

Gutverdiener profitieren von Vergünstigungen

Während die reichsten Erwerbstätigen knapp 40 Prozent ihres Einkommens abgeben, sind es bei den ärmsten Deutschen noch immer 35 Prozent. Diese relativ hohen Abgaben und Steuern bei Wenigverdiener sind eine wichtige Ursache für die Ungleichheit in Deutschland.
Die Schieflage wird allerdings nicht ausreichend wahrgenommen, denn die öffentliche Debatte wird immer noch von den scheinbar unverhältnismäßig großzügigen „Sozialtransfers“ beherrscht. Dabei profitieren Gutverdiener noch immer von umfangreichen Steuervergünstigungen, während es solche Vorteile für Geringverdiener so gut wie gar nicht gibt. Die Zahlen belegen, dass Wenigverdiener in Deutschland einer drückenden finanziellen Belastung ausgesetzt sind, die ihre Lebensqualität spürbar einschränkt.
Die hohe Belastung ärmerer Haushalte liegt vor allem an der Struktur des deutschen Steuersystems und den relativ hohen Sozialabgaben, die Menschen mit niedrigeren Einkommen zahlen müssen. Verschärft wird dies durch den hohen Anteil an indirekten Steuern wie etwa der Mehrwertsteuer, da diese insbesondere von niedrigen Einkommen getragen werden.

Wenig Lohn und kleine Rente

Ein funktionierendes Steuersystem sollte für einen sozialen Ausgleich zwischen Arm und Reich sorgen. Doch auch das klappt in Deutschland mehr schlecht als recht. Nun könnte man hoffen, dass Sozialtransfers und Unterstützungsleistungen dem entgegenwirken. Doch auch die 175 Milliarden Euro, die Deutschland 2024 für Arbeit und Soziales bereitstellt, können in vielen Fällen die finanziellen Belastungen nicht ausgleichen, die durch das Steuer- und Abgabensystem entstehen. Dies führt dazu, dass trotz einer Vielzahl staatlicher Hilfen gerade Arbeitende im Niedriglohnsektor aufgrund zu hoher Abgaben in Armut geraten.
In der politischen Diskussion wird häufig gefordert, Arbeitsanreize für Geringverdiener zu erhöhen. „Arbeit muss sich wieder lohnen, Transferleistungen wie das Bürgergeld sind zu hoch“, heißt es dann. Doch dabei wird ignoriert, dass beinahe ein Drittel der bereits in Armut lebenden berufstätigen Deutschen mehr an den Staat zahlt als diese an Transferleistungen beziehen. Betroffen sind davon insbesondere Menschen mit Migrationshintergrund, die trotz ihrer schlechten Bezahlung im Niedriglohnsektor den Wohlfahrtsstaat mitfinanzieren.
Die Lösung liegt auf der Hand: Unser Sozialabgabensystem benötigt dringend einen de facto Freibetrag, wie er für die Einkommensteuer selbstverständlich ist.

Änderungen im Sozialsystem sind notwendig

Gegenwärtig werden Geringverdiener spätestens im Alter zum Armutsfall, weil sie zu wenige Rentenpunkte ansparen konnten. So werden diese ihr Rentnerleben lang von Sozialtransfers und staatlichen Unterstützungsleistungen abhängig bleiben. Ein Freibetrag würde es ihnen erlauben, zumindest während ihres Erwerbslebens nicht in Armut zu leben.
Ähnlich ungerecht geht es bislang auch bei den Beiträgen zur Krankenversicherung zu. Während das Einkommen von Gutverdienern über der Beitragsbemessungsgrenze vollständig abgabefrei bleibt, zahlen Geringverdiener fleißig Beiträge — ab dem ersten Euro. Durch eine Aufhebung oder signifikante Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze würden der Krankenversicherung mehr Beiträge zufließen, was wiederum Versicherte mit niedrigen Einkommen entlastet.
Wenn der deutsche Sozialstaat wieder seinem Namen gerecht werden soll, dann werden wir nicht umhinkommen, das unsoziale Steuern- und Abgabensystem fundamental zu renovieren.

Manuel Schechtl ist Assistenzprofessor am Fachbereich für öffentliche Ordnung an der Universität von North Carolina in Chapel Hill. Sein Forschungsschwerpunkt liegt im Bereich von Einkommens- und Vermögensungleichheit sowie der Armutsforschung.

Ein Mann blickt in die Kamera und lächelt. Es ist der Soziologe Manuel Schechtl.
© privat
Mehr zu sozialer Gerechtigkeit