Meine Frau, deine Frau

Rezensiert von Volker Hage |
Frau entführt, Lösegeld bezahlt, Frau zurück – leider die falsche: Zufall, Schicksal, Fügung? Die Kalendergeschichten von Botho Strauß in dem Prosaband „Mikado“ erzählen von seltsamen Begegnungen, die nicht selten in einem katastrophalen Erdbeben enden. Fantastisch erzählte unheimliche Prosa mit doppeltem Boden.
In seinem neuen Prosabuch „Mikado“ erzählt Botho Strauß im Stil der Kalendergeschichte von den Abgründen, Verwirrungen und Bagatellen unseres Lebens. Die Frau eines Fabrikanten ist entführt, das geforderte Lösegeld gezahlt worden, und die Polizei liefert die Entführte wohlbehalten wieder ab. Es gibt nur ein Problem: Der Ehemann behauptet, es sei die Falsche zurückgekehrt: „Dies ist nicht meine Frau.“

Was nun? Sie beharrt darauf, die Gattin zu sein, und schickt die Polizisten mit den Worten weg, ihr Mann sei nach den Strapazen ein wenig verwirrt. Der bleibt bei seiner Abwehr, mildert sie dann zwar ein wenig ab – „Ganz verstehe ich es immer noch nicht“ – doch bei einer Runde Mikado, dem traditionellen Lieblingsspiel der beiden Eheleute, kommt es zu einer neuerlichen Entfremdung.

Die Titelgeschichte aus „Mikado“ – dem neuen Buch von Botho Strauß, das Ende dieser Woche erscheint – umfasst nur wenige Seiten und endet so rätselhaft, wie sie begonnen hat: Wie auch die meisten anderen 40 Erzählungen und Anekdoten in diesem Band. Und doch oder gerade deswegen war seit Langem kein Prosawerk dieses Autors so anmutig, so spannend und unterhaltsam wie dieses.

Strauß, 61, hat einen Klassiker des deutschen Literaturkanons neu belebt und mit seinen Mitteln überraschend aus- und radikal umgestaltet. Johann Peter Hebel (1760 bis 1826) war es, der die volkstümlichen Kalendergeschichten 1811 in seiner Sammlung „Schatzkästlein des rheinischen Hausfreundes“ auf die Ebene des Literarischen hob: kurze Erzählungen, Legenden und paradoxe Miniaturen mit Titeln wie „Der kluge Richter“, „Schlechter Lohn“, „Unverhofftes Wiedersehen“ oder „Kannitverstan“.

Diesen „Kindern des Scherzes und der Laune“ (Hebel) ist bis heute die Popularität und ein Platz in der Literaturgeschichte geblieben – wobei die hinter Humor und Biederkeit versteckte Bosheit und Intelligenz lange verkannt wurde.

Für den eigenwilligen, von Abirrungen und irritierenden Einsprengseln geprägten Erzählstil von Strauß, ist das eine ideale Form. Und schon die ersten Sätze seiner
neuen Stücke sind zumeist kleine Episoden für sich, die die Neugier und die Fantasie anregen. Eleganter und hintergründiger kann man in die eingangs zitierte Geschichte kaum einführen:

„Zu einem Fabrikanten, dessen Gattin ihm während eines Messebesuchs entführt worden war, kehrte nach Zahlung eines hohen Lösegelds eine Frau zurück, die er nicht kannte und die ihm nicht entführt worden war.“

Eine andere Geschichte – „Rückkehr“ – beginnt mit den Worten:

„Da gab es den Bäckermeister Awin, der eines Morgens nicht mehr in seine Backstube kam, seine Frau Myriam verließ und nach Mexiko auswanderte.“

Oder es heißt schlicht in „Die Absicht“:

„Er betrog keinen Unbekannten, sondern seinen liebsten Kollegen, dem er eine halbe Stunde zuvor noch beim Ausfüllen eines komplizierten Fragebogens behilflich war.“

Oder auch ganz kurz in „Die Hemmung“:

„Die Frau meines ärgsten Feindes könnte ebenso gut die meine sein.“
Natürlich gibt es in diesen Kurzerzählungen auch genug unheimliche Begegnungen, merkwürdige Zufälle, überraschende Wendungen: Zu ihrem Personal zählen alte Ehepaare, aus der Zeit gefallene Wanderer ebenso wie Geister, Gaukler, ein dreifüßiges Ungetüm, sprechende Staubballen und die Nebenfiguren aus dem 15 Romane umfassenden Werk eines bettlägerigen alten Schriftstellers.

Aber nichts ist hier rückwärtsgewandt. Die unmittelbare Gegenwart bleibt – wie es sich für Kalendergeschichten ziemt – die Folie: ob nun ein Chatroom-Besucher im Internet schlechte Laune verbreitet oder ein Fluggast wegen eines Streiks unversehens viel unausgefüllte Zeit – „neun Stunden Totzeit“ – vor sich hat oder ein „junger Telefontechniker“ zu früh nach Hause kommt. Und die Geschichte „Der Mittler“ zeigt mit leichter Hand, wie sehr ein „Geisterfänger“ in einer Welt der Technik, wo oft „der Teufel im Detail“ steckt, von Nutzen ist.

Nur ganz behutsam streut Strauß einige theoretische Bemerkungen in seine Geschichten – etwa in der „Verwirrung“ – eine traurige Erzählung vom Familienvater, den seine Frau mitsamt dem Sohn wegen eines anderen verlassen hat, und der nun sein Kind nur noch selten sieht und diesem als Lehre notiert:

„Damit du nicht nackt und abstrakt dastehst, wenn dir einmal etwas so Unbegreifliches passiert wie mir",“

solle er die Sagen und Mythen studieren. Denn:

„"Alles, was dir als grausamer Zufall erscheint, der dich in furchtbarer Vereinzelung trifft, ist in Wahrheit nichts als eine Erinnerungslücke: weil dein Hirn den Zusammenhang mit der großen Geschichte des menschlichen Unglücks verlor.“

Botho Strauß verbindet in diesem Buch seinen bewährten erzählerischen Zugriff auf das Heutige und das zu Erinnernde mit der Tugend des raschen Wechsels, der Andeutung und Anekdote. Eine Auswahl von fünf Texten mit acht eigens für diesen Anlass entstandenen Kreidezeichnungen von
Neo Rauch erscheint parallel in begrenzter Auflage im Verlag Kleinheinrich, Münster.

Botho Strauß: Mikado
Hanser, September 2006
176 Seiten, 17.90 Euro