Am Rande des Abgrundes

Von Kristin Schneider |
Zwei Jahre lang war einer der bedeutendsten Gegenwartsmaler – der Leipziger Neo Rauch – von der Bildfläche verschwunden. Jetzt hat er sich mit seiner ersten Einzelausstellung in Deutschland zurück gemeldet. In zwölf großformatigen Ölgemälden widmet er sich dem Thema Vergänglichkeit.
Auf einem der neusten Neo Rauch Gemälde entfacht sich folgende Situation: Ein Journalist und ein Maler sitzen sich gegenüber. Die Augen geschlossen, wirken sie wie weggetreten in ihren Sesseln. Beide sind nicht Herren ihrer selbst, denn die zwei Gestalten, die an Pfleger erinnern und hinter ihnen stehen, machen sich an ihnen wie an Marionetten zu schaffen.

„Ich habe oft das Gefühl, das jemand hinter mir steht. Allein dieses Gefühl, dass wir den Raum hinter uns nicht überwachen können, kann ja in einen Tick münden. Im Konkreten wie im übertragenen Sinne. Wer lenkt meine Schritte, meine Gesten, meine Mimik? Und wer formuliert da meine Sätze?“

Neo Rauch steht vor seinen Bildern. Die Arbeit „Das Interview“ hat er erst vor wenigen Monaten fertig gestellt. Insgesamt zwölf monumentale Arbeiten – riesig wie Fresken der Sixtinischen Kapelle – umgeben ihn in der umgebauten Maschinenhalle, in der seit einem Jahr die Galerie Eigen + Art auf dem Gelände der Leipziger Baumwollspinnerei zu Hause ist. Nahezu ehrfürchtig blickt Neo Rauch auf das Ergebnis seiner Arbeit:

„Das ist der Moment, auf den man als Autor immer lange Zeit zu warten hat. Da ja die Bilder erst in diesem gehängten Zustand ihre tatsächliche Bestimmungslage erreicht haben und ihre optimale Wirkung entfalten können. Es ist ja ein großer Unterschied, ob ein Bild an einer Wand steht, lehnt oder hängt und nun können sie zeigen was sie drauf haben.“

Gut zwei Jahre hat Neo Rauch an den Bildern gearbeitet – zurückgezogen, konzentriert, allein. Nie waren seine Bilder so überladen, so direkt, so düster. Betritt man den Raum in dem sie hängen, glaubt man sich auf einem Schlachtfeld mitten im Krieg – sei es im Privaten, Religiösen, Realen, Utopischen oder Krieg. Der Himmel brennt. Menschen, Tiere, Monster fallen übereinander her. Elfenhafte Wesen fliegen durch karge Landschaften. Panzer rollen.

„Ich würde eher sagen, es sind Spannungszustände thematisiert, die kurz vor der Entladung stehen. Und da gibt es unter Umständen auch Entladungssequenzen, die vielleicht so bisher nicht zu verzeichnen gewesen sind. Da sehe ich eine der Wirkungsmöglichkeiten von Kunst: Dass sie uns am Rande des Abgrundes einen Halt vermitteln kann.“

350 potentielle Käufer für die zwölf atelierfrischen Arbeiten von Neo Rauch reisten schon Tage vor der Eröffnung der Ausstellung nach Leipzig. Die Vorbestellungen reichen bis zum Jahre 2008. Man könnte glauben, Rauch male nur noch, um die Nachfrage seiner Käufer zu sättigen.

Eine Begegnung mit dem Künstler zeigt das ganze Gegenteil auf. Es scheint als sei ein innerer Motor in Bewegung, der in Neo Rauchs Kopf unermüdlich Ideen für neue Bilder vorantreibt. Hier beschreibt er einen Traum, der bald Inhalt eines neuen Bildes sein könnte:

„Ich war ein Hitlerattentäter und habe auf diesen Burschen geschossen. Das hat ja außer mir niemand weiter versucht – bisher. Die anderen haben es ja immer mit Sprengstoff versucht. Ich habe tatsächlich zur Maschinenpistole gegriffen und habe diesen Kerl auch erwischt. Allerdings kamen kleine weiße Plastkügelchen heraus, die von seiner Brust abprallten – und nachher ging's schief. Gott sei Dank bin ich dann aufgewacht.“

Neo Rauch und Leipzig bildeten schon seit seiner Kindheit eine Einheit. Dort 1960 geboren, wuchs er zwar in Aschersleben – einer Kleinstadt im Harzvorland auf – kehrte jedoch als junger Student im Alter von 21 Jahren wieder nach Leipzig zurück, wo er sein Studium der Malerei an der Hochschule für Grafik und Buchkunst begann:

„Für mich kam ja tatsächlich nur dieses Institut in Frage, weil – angesichts der Tatsache, dass meine Eltern dort studiert haben, und ihr Studium nicht beenden konnten, weil sie im ersten Studienjahr tödlich verunglückten – für mich eine Geschichte offen blieb, an die ich anknüpfen musste. Zum anderen waren die andern Kunsthochschulen, die es da noch gab, für mich nicht interessant wie die Leipziger Schule, die mir in ihrer manieristischen Eleganz als das Passende erschien.“

Malerpersönlichkeiten wie Werner Tübke, Arno Ring und Wolfgang Mattheuer waren für den jungen Rauch von magnetischer Qualität. Obwohl von Gegensätzen in Bildsprache, Bildgrundierung und Figurenfindung stand bei allen die menschliche Figur im Vordergrund. Sie blieb bis heute das wichtigste Medium der Künstler in Leipzig.

„Das waren Handschriften, die ich für außerordentlich vorbildlich ansah. Das war es, was mich irgendwann ausmachen sollte. Es hat auch viel damit zu tun, mit meiner Neigung zu surrealistischen Auffassungen. Da war ja Salvador Dali anfangs ein großer Heroe. Das hat sich dann Gott sei Dank gelegt.“

Die Wende erlebte Neo Rauch in Leipzig. Wie er selbst sagt, nahmen die politischen Umwälzungen keine Auswirkungen auf seine Bilder. In dieser Umbruchszeit lernte Rauch Gerd Harry Lybke kennen, der ihn heute als Galerist vertritt.

In eiserner Disziplin verbringt Neo Rauch zehn Stunden täglich in seinem Atelier. Warmes Licht durch riesige Industrieglasfenster fällt auf die Leinwände, die Rauch zum Trocken aufgestellt hat. Rauch malt an fünf bis sieben Bildern gleichzeitig. Nur hier in Leipzig findet er Gespür, Kraft und Inspiration für seine Bilder:

„Leipzig ist ein Ort, der von Fernreisenden immer wieder mit New York verglichen worden ist. Das mag absurd klingen, aber wenn man in Brooklyn oder Harlem unterwegs ist, da gibt es Situationen, die mich an Leipzig erinnern. Diese hinunter gekommenen Quartiere, Industrie, Vorstadt Mileus, die sich in einem Mischzustand von totalem Niedergang und mitunter sehr fragwürdiger Neuaufrüstung befinden.“

Leipzig erlebt dieser Tage eine Art zweite Gründerzeit. Es wird eifrig renoviert, restauriert, neu gebaut. Es generiert sich ein neues, teils aus dem Westen zugezogenes Bürgertum. Vernissagen sind beliebt. Ausstellungen gut besucht. Studenten strömen herein. Und immer mehr junge Künstler aus der gesamten Republik, die an der immer berühmter werdenden Hochschule eine Anbindung ans Fließband des Ruhmes finden wollen.

Neo Rauch – der 2005 zum Professor der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig berufen wurde – sprach sich zu seinem Antritt selbst gegen den Hype um den als „Neue Leipziger Schule“ bezeichneten Malstil:

„Es kann nicht sein, dass jede drittklassige Leinwand verkauft ist, bevor die Farben getrocknet sind“, sagte er damals.

Neo Rauch: „Der Zeitraum“, Galerie Eigen + Art , Alte Baumwollspinnerei Leipzig, noch bis zum 22.12.2006