Mein Papa ist ein Säufer

19.08.2011
In ihrem neuen Roman "Das Mädchen" erzählt Angelika Klüssendorf von einer Zwölfjährigen, die in der DDR aufwächst. Der Vater ist Säufer, die Freunde sind nicht besser, überall Gewalt: In starken Sätzen schildert die in Berlin lebende Autorin prägnant eine Welt, die das Kindsein kaum zulässt.
Die Schriftstellerin Angelika Klüssendorf gilt als Spezialistin für düstere Familienkonstellationen. Die Kritik warf ihr gar vor, sie "ertüftele" abschreckendes Leid. In ihrem neuen Roman "Das Mädchen" erzählt die 1958 Geborene von der Kindheit und der Pubertät eines anfangs 12-jährigen Mädchens. Spielte die Geschichte nicht in der DDR vor der Wende, könnte man angesichts der grauslichen Familie des Mädchens von "bildungsfernen Schichten" sprechen, gar von "white trash". Denn dort verdeckte Proletkult und mangelnde Öffentlichkeit die Problemfälle.

So erlebt der Leser gleich zu Beginn des Romans wie die seit Tagen zu Hause eingesperrten Geschwister ihre eigenen Fäkalen auf die Straße werfen. Der Vater ist ein Säufer, die Liebhaber sind nicht besser, alle sind gewalttätig und das Kind schwankt zwischen Depression und Rebellion. Provozierend ist an Klüssendorfs Prosa, dass sie die vielen Gewaltszenen fast unkommentiert erzählt. Durch die Beiläufigkeit wirken sie besonders brutal. Das wäre aber schon ein erster Kritikpunkt an der Poetik dieses kurzen Romans: Die Gewaltszenen haben mitunter den Effekt von grellen Filmszenen. Sie haben etwas Voyeuristisches, Effekthaschendes an sich.

Klüssendorfs Sprache ist in ihren starken Sätzen prägnant und lakonisch. Die weniger starken sind mitunter hülsenhaft und wenig sorgfältig geschrieben: "Die Traurigkeit sitzt ihr wie ein bockiges Gefühl in der Brust." Das Mädchen kommt ins Heim, lernt dort, sich durchzusetzen, wird schließlich Melkerin in einer LPG und liegt am Ende im Gras und träumt, fliegen zu können.

Viele Abschnitte von Klüssendorfs Prosa sind intensiv, aber eine Intensität, die in der Tat "ertüftelt" ist. Die Spannung wird durch die wiederholten Schockmomente erreicht und nur selten durch die Entwicklung der Personen.

Als Milieustudie mag das durchgehen, aber Klüssendorfs Anspruch geht weiter: Sie installiert Literatur, erzeugt einen wiedererkennbaren Stil. Aber sie moderiert dabei beim Leser letztlich nur Momente von Ekel und Abscheu. Die mitunter eingeflochtenen Idyllen wirken ein wenig aufgesetzt. Mehr ein Trick als eine Poetik ist dieser Wechsel von provozierender Kitschigkeit und kaum mehr betroffen machenden Sozial-Horror.

Besprochen von Marius Meller

Angelika Klüssendorf: Das Mädchen
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2011
185 Seiten, 18,99 Euro
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