Mein Nachbar, der Extremist

Moderation: Maike Albath · 29.04.2012
Sie sind jung, männlich, unauffällig, oft sehr allein. Und plötzlich radikalisieren sie sich manchmal innerhalb weniger Wochen. "Mein Nachbar, der Extremist. Wie begegnen wir Neonazis und Islamisten?" lautet das Thema dieser Lesart Spezial.
Maike Albath: Es begrüßt Sie Maike Albath. Herzlich willkommen zu unserem Buchmagazin, heute aus dem Grillo Theater in Essen – in Kooperation mit dem Kulturwissenschaftlichen Institut und der Buchhandlung Proust. Medienpartner sind die Westdeutsche Allgemeine Zeitung und das Schauspiel Essen.

Über zwei neue Bücher zum Phänomen des Extremismus wollen wir heute mit unseren Gästen diskutieren. Der Journalist der Berliner taz Wolf Schmidt, Redakteur im Ressort Innenpolitik, hat gerade den Band "Jung, deutsch, Taliban" vorgelegt. Guten Tag, Herr Schmidt.

Wolf Schmidt: Hallo.

Maike Albath: Eingeladen haben wir außerdem den Politikwissenschaftler Uwe Backes. Er ist Professor für Diktaturforschung an der Universität Dresden und ein Experte für Extremismus in Demokratien.

Von Gideon Botsch gibt es jetzt einen "Überblick über die extreme Rechte in der Bundesrepublik 1949 bis heute". Das Land war vollkommen zerstört. Die Alliierten hatten sich verpflichtet, ein demokratisches Deutschland aufzubauen. Botsch wählt 1949 als Ausgangspunkt. Warum?

Uwe Backes: Das ist naheliegend. Es ist die Gründung der Bundesrepublik Deutschland, die ersten Bundestagswahlen, die Konstituierung insofern der bundesdeutschen Parteienlandschaft. Und bei der ersten Bundestagswahl war es natürlich sehr spannend für viele professionelle Beobachter, zu schauen, wie werden die extremistischen Parteien abschneiden, insbesondere jene Parteien, die sich mehr oder weniger stark an nationalistischen Ideen, am historischen Nationalsozialismus orientieren würden. Das war sicherlich eine der ganz wichtigen Fragen, weil diese Frage natürlich auch für die Konsolidierungschancen, die Stabilisierungschancen der jungen deutschen Demokratie entscheidend war. Und viele Beobachter haben damals mit großer Besorgnis, mit Bangen auf diese erste deutsche Bundestagswahl geschaut und waren dann hinterher erleichtert.

Viele haben dann festgestellt, dass eben das Abschneiden der rechtsextremen Parteien im Vergleich zu den großen Befürchtungen, die man ja angesichts der sehr starken deutschen rechtsextremistischen Traditionen haben musste, angesichts der starken Verankerung des Nationalsozialismus in der Bevölkerung, das NS-Regime war ja bis in die ersten Kriegsjahre hinein von einer breiten Volksunterstützung getragen, also, es hatte eine echte Massenbasis, und angesichts dessen war es nicht selbstverständlich, dass dann 1949 bei der ersten Bundestagswahl die neu konstituierten Parteien, eine große Mehrheit bekamen und rechtsextremistische Parteien zwar als Minderheiten nicht unbedeutend waren, aber nicht so stark waren, dass man befürchten musste, dass schon in relativ kurzer Zeit sozusagen dieser zweite Demokratieversuch in Deutschland auf eine sehr, sehr ernste Bewährungsprobe gestellt würde.

Maike Albath: Wolf Schmidt, es ist ja ein Überblick, der bis in die Gegenwart dauert. Und der Autor schreitet eigentlich in Zehn-Jahresschritten voran. Gibt es da bestimmte Zäsuren, die er macht?

Wolf Schmidt: Was ich im Rückblick noch mal sehr interessant fand, war, zu sehen, auch angesichts der Sache mit dem nationalsozialistischen Untergrund, also der Mordserie, die über 13 Jahre lang nicht entdeckt wurde, fand ich interessant zu sehen, dass es doch Anfang der 80er-Jahre, und das war schon auch eine Art von Zäsur, doch auch eine ganze Welle von rechtsterroristischen Entwicklungen, Episoden oder auch tatsächlich Anschlägen gehabt, also, das Oktoberfestattentat oder auch die Anschläge oder Aktionen der deutschen Aktionsgruppen um Manfred Röder. Deswegen fand ich das interessant, einfach noch mal zu lesen und sich das auch vor Augen zu führen.

Wobei ich mich auch gefragt habe, und das finde ich ganz interessant: Warum ist das eigentlich so, dass so was nicht irgendwie im kollektiven Gedächtnis drin ist – im Gegensatz zum Linksterrorismus der 70er-Jahre? Da kennt jeder die Namen. Da kennt jeder die Filme. Da kennt jeder die Bücher. Es ist bis ins letzte halbschattige Eck ausgeleuchtet. Warum weiß eigentlich fast niemand, wer Gundolf Köhler ist, der das Oktoberfestattentat verübt hat. Ich hab das Gefühl, das ist relativ in Vergessenheit geraten. Da habe ich mich gefragt, warum das eigentlich so ist.

Maike Albath: Haben Sie eine Antwort darauf in dem Buch von Gideon Botsch gefunden? Es ist ja der Versuch, genau mit diesem Nichtwissen im Grunde genommen aufzuräumen, also, dem etwas entgegen zu setzen oder einen Überblick zu liefern dieser rechtsextremen Tendenzen, die es eben seit der Gründung der Bundesrepublik doch auch immer gab.

Uwe Backes: Ich war selbst überrascht darüber, als die ersten Informationen über die Terrorzelle im November vergangenen Jahres, das ist ja noch nicht so lange her, durch die Medien gingen, dass viele – auch professionelle Beobachter – in ihren Kommentaren nicht gleich auf die Parallelen zu früheren rechtsterroristischen Gruppierungen eingegangen sind. Und in der Tat kann man aus dem Buch von Gideon Botsch hier einiges lernen, was aber natürlich dem professionellen Beobachter durchaus bekannt ist. Wir haben ja eine ganze Reihe von wissenschaftlichen Untersuchungen, die sich mit den Ansätzen von Rechtsterrorismus in den 80er Jahren, auch in den 90er-Jahren ausführlich auseinandergesetzt haben.
Wir haben Täterstudien. Es gibt umfassende Beschreibungen der Trägerszenen, der Jugendsubkulturen, von denen Gewalttaten ausgegangen sind. Wir haben sehr eingehende Darstellungen der verschiedenen, meist neonationalsozialistisch orientierten Gruppierungen.

Gideon Botsch hat in seinem Werk diese Geschichte sehr gründlich aufgearbeitet, eine Fülle an Details zusammengetragen. Und jeder, der dieses Buch liest, kann natürlich dann diese ganz aktuelle Entwicklung dann in einen etwas größeren Kontext einordnen.
Aber die andere Frage, die Sie ja eigentlich gestellt haben, ist die, warum die breitere Öffentlichkeit das dann nicht so stark einordnet. Da würde ich sagen: Wir haben eben ein relativ kurzes Gedächtnis. Auch die Medien sind immer sehr stark auf aktuelle Ereignisse fixiert. Und oft werden dann die längeren historischen Dimensionen nicht so bewusst gemacht, wie wir uns das eigentlich wünschen sollten. Und es ist sicherlich ein Verdienst dieses Buches, dass diese historischen Kontinuitäts-, aber teilweise auch Diskontinuitätslinien rekonstruiert werden.

Maike Albath: Aber man erfährt schon sehr viel über das Gedankengut, wie es sich auch fortgepflanzt hat und welche Gruppierungen es aufgreifen immer wieder. Gideon Botsch versucht ja das auch darzustellen und einzuordnen. Wolf Schmidt, wie ist es denn mit dem Milieu, aus dem sich diese extreme Rechte rekrutiert hat? Ändert sich das dann sehr stark auch in den 60er-Jahren, als die Generation derjenigen, die den Nationalsozialismus noch ganz aktiv, auch politisch miterlebt hatten, vielleicht auch gestaltend miterlebt hatten.

Wolf Schmidt: Mit Sicherheit ändert sich das. Ich finde auch, dass sozusagen der Umbruch da auch ganz klar mit 1990, also mit der Wende, kommt und dass man auch wirklich sieht – und auch das finde ich interessant, wieder zu sehen -, wie das bei den Männern und Frauen des nationalsozialistischen Untergrunds ist, dass es eben diese Radikalisierung durch den Nachwenderechtsextremismus, durch Hoyerswerda, durch Rostock-Lichtenhagen, ja, auch schlicht und einfach durch die Tatsache, dass über Jahre hinweg auch vielleicht wirklich zu wenig getan wurde, um diese breite Verankerung – also, zum Teil konnten die sich tatsächlich fühlen wie so eine Art Avantgarde, die zumindest sich selber so gefühlt hat, als ob sie einen imaginären Volkswillen vollstreckt, indem sie Taten begeht gegen Fremde, also, wie sich da in den 90er Jahren vor allem in Ostdeutschland in gewissen Gegenden Versuche gibt tatsächlich, an manchen Stellen, so eine Hegemonie zu erreichen.

Dann die zweite Zäsur, die Neuaufstellung der NPD, also mit dem neuen Chef und auch mit der bewussten Öffnung zu diesen freien Kameradschaften, zu den militanten Neonazis ab 96 usw., usf., das sind wichtige Zäsuren, die auch in dem Buch sehr treffend beschrieben werden. Genau von denen lernt man tatsächlich viel heraus.

Maike Albath: Welches ist denn so ein typisches Profil oder eine typische Biografie eines Repräsentanten der extremen Rechten? Es fielen ja jetzt schon ein paar Namen. Wer wird hier besonders prominent vorgestellt? Oder gibt es Jugendgruppen die sehr bedeutend hier auch als ein wesentlicher Träger von Ideen vermittelt werden, die im Vordergrund stehen?

Uwe Backes: Also, zunächst müssen wir ja versuchen zu unterscheiden, und das tut Botsch in seinem Werk auch in vielen Passagen sehr überzeugend, zwischen verschiedenen Strömungen, weltanschaulichen Strömungen. Die extrem Rechte ist kein Block. Das ist keine Einheit. Wir haben mehrere Traditionsstränge ideologisch, die nebeneinander stehen, aber auch sich miteinander verbinden. Die Völkischen, die Deutschnationalen, die Nationalrevolutionäre, das könnte man jetzt typologisch auffächern.

Maike Albath: Sehr überraschend fand ich, dass zum Beispiel auch die grüne Landwirtschaft eine Rolle spielt, dieses Neuheidnische, das war mir so nicht geläufig. Das ist ja auch eine Gruppe, die er nennt.

Uwe Backes: Das wissen viele nicht, aber es ist natürlich eine altbekannte Sache. Selbst im Nationalsozialismus lassen sich ja schon Anfänge auch von ökologischen Ideen finden. Also, es ist keine linke Strömung per se, dass man auf die Natur schaut.
Zweitens müssen wir aber neben diesen ideologischen Strömungen auch unterscheiden natürlich verschiedene organisatorische Dimensionen, die auch Botsch unterscheidet: zum einen die Parteien, die also ihre Aktivitäten auf das Wahlgeschehen konzentrieren, dann die jugendlich subkulturellen Szenen, die einen eigenen Mikrokosmos teilweise bilden, teilweise auch verflochten sind mit der Parteiszene, aber teilweise auch ein Eigenleben führen; und dann auch intellektuelle rechtsextremistische Strömungen, die meist sich um bestimmte Theorieorgane herum bilden.

Daher kann ich also Ihre Frage nach dem Profil des Rechtsextremisten nicht so eindeutig beantworten. Auch Botsch würde sicher in seiner Darstellung darauf verweisen, dass man erst einmal vorsichtig sein muss. Wir neigen dazu, dass dann den Rechtsextremismus sozusagen als eine monolithische Einheit zu sehen, aber das ist natürlich ein Mikrokosmos, der sehr vielgestaltig ist. Und wir sollten uns darum bemühen, hier möglichst genaue Differenzierungen vorzunehmen und nicht alles in einen Topf hinein zu werfen.

Auch wenn Sie nach gewaltorientierten Jugendlichen fragen, da gibt es eine ganze Reihe von Täterstudien. Dann gibt es schon hier Gemeinsamkeiten, die man feststellen kann, die vielleicht nicht auf jeden einzelnen Fall zutreffen, aber doch dann ein Durchschnittsprofil ergeben. Da kann man feststellen, wir haben sehr oft Jugendliche, die – so wie wir das auch bei den salafistischen feststellen, die Sie, Herr Schmidt, in Ihrem Buch analysiert haben -, die eine Kumulation von Problemlagen schon in der Kindheit und frühen Jugend haben. Oft sind es Familien, in denen es biografische Belastungen gibt, Tod eines Elternteils, Scheidung und Probleme dann in den Beziehungen zwischen dem Kind und den Eltern oder einem Elternteil, Krankheiten, schulische Probleme und dergleichen.

Maike Albath: Wolf Schmidt, wie ist es denn mit der Tatsache, dass ja häufig diese extremistischen Tendenzen dazu führen, dass sich eine Demokratie auch verständigen muss auf die Werte, die gelten? Es ist ja immer in der Diskussion, ob ein Parteienverbot sinnvoll ist oder wie man als Mehrheitsgesellschaft diesen Tendenzen gegenübertritt. Sagt Gideon Botsch dazu etwas? Kann die Erfahrung, mit Extremismus umgehen zu müssen in einer Demokratie, auch dazu führen, dass die Werte der Demokratie gestärkt werden?

Wolf Schmidt: Also, der Band ist erstmal wirklich ein sehr guter historischer Abriss, der jetzt auch nicht zu tief einsteigt in die Debatte, inwiefern der Umgang (...) – also, auch zum Beispiel in die Verbotsdebatte der NPD nicht sehr tief einsteigt, wo ich jahrelang auch ein Skeptiker war. Also, ich hab gedacht, es spricht nicht viel dafür, die NPD zu verbieten, aber hab da so ein bisschen umgedacht – auch durch die Entwicklung in dem NSU, auch wenn jetzt die Beziehungen noch nicht unbedingt klar sind, aber es gibt wirklich viele Querverbindungen. Ja, ich finde mittlerweile, denk da bisschen um und hab das Gefühl, das wäre schon ein Punkt, wo man ernsthaft drüber nachdenken muss, ob man sich leisten kann, dass so eine Partei mit staatlichen Mitteln finanziert wird in dem Ausmaß, wie es passiert. Nämlich fast zur Hälfte wird die eben durch den Staat subventioniert – mit den ganzen Gewalttätern und Straftätern in ihren Reihen, das ja wirklich Legion ist.

Maike Albath: An einer Stelle sagt er: "Die extreme Rechte hat es nicht verstanden, in der bundesdeutschen Demokratie anzukommen." Geben Sie Gideon Botsch da Recht, Uwe Backes?

Uwe Backes: Ja, in gewisser Weise ist das ja eine pleonastische Aussage, wenn man so etwas sagt, wenn man sagt, extreme Rechte ist nicht in der Demokratie angekommen. Die Definition der extremen Rechten, dass sie nicht in der Demokratie ankommt, das ist eine zirkuläre Aussage. Was man aber sagen kann oder sagen sollte: Es ist sicher so, dass angesichts der großen Verankerung der extremen Rechten in der deutschen Geschichte nicht von vornherein zu erwarten war, und das schreibt auch Botsch in seinem Buch, dass sie eine so geringe Rolle in der Geschichte der Bundesrepublik spielen würde. Und sie spielt eine immer noch zu große Rolle. Da sind wir uns alle sicher einig.
Aber wenn wir vergleichen mit anderen europäischen Staaten, schauen Sie unser Nachbarland Frankreich an: Marin le Pen hat gerade beim ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen fast 20 Prozent der Stimmen erhalten.

Maike Albath: 18.

Uwe Backes: 18 % der Stimmen erhalten. Und das ist natürlich eine Größenordnung, die wir glücklicherweise in der Bundesrepublik Deutschland auf der nationalen Ebene nie erreicht haben.

Maike Albath: Wir sprachen über Gideon Botsch, "Die extreme Rechte in der Bundesrepublik Deutschland 1949 bis heute", erschienen in der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft.

Wolf Schmidt, Ihr Band "Jung. Deutsch. Taliban" erzählt von diesen neuen, oft eben auch deutschen jungen Männern, die sich angezogen fühlen vom islamistischen Extremismus. Wie haben Sie da recherchiert?

Wolf Schmidt: Also, ich hab mich ja vor allen Dingen mit den jungen Männern und wenigen Frauen beschäftigt, die sich tatsächlich militanten Formen des Islamismus anschließen, also, die radikalisieren und dann tatsächlich ausreisen nach Pakistan, dort sich islamistisch-terroristischen Gruppen anschließen wie Al-Kaida oder der islamischen Bewegung Usbekistan oder Deutsche Taliban Mudschaheddin nennt sich so eine kleine Splittergruppe, die zum Teil erschreckend jung sind – 19 Jahre, 20 Jahre, die dann dort hinreisen und ja dann zum Teil eben auch sterben relativ schnell dort in dem Krieg, der sie, wenn man hinschaut, zum Teil auch wirklich überhaupt gar nichts angeht und man sich fragt, was sie da verloren haben.

Aber zurück zu Ihrer Frage, wie man da recherchiert: Also, ich habe mit Eltern gesprochen, mit Müttern und Vätern, mit ehemaligen Freunden, Angehörigen oder auch ehemaligen Chefs, um da zu versuchen, ein bisschen den Weg zu konstruieren, wie das passieren konnte, und dazu eben zusätzlich Prozesse besucht oder auch Ermittlungsunterlagen ausgewertet, mit Sicherheitsbehörden gesprochen, auch anderen Experten aus dem Bereich, sozusagen um zu versuchen so ein Bild zu bekommen von dieser mittlerweile schon dritten Generation von militanten Islamisten. Nach Nine Eleven und nach der Sauerlandzelle ist das sozusagen schon der nächste Schritt. Und, wie gesagt, was ich sehr erschreckend fand, war, wie jung zum Teil diese vor allen Dingen Männer sind, wie wenig lang sie in dieser Szene eigentlich drin sind und dann tatsächlich schon da ausreisen nach Pakistan und zum Teil dann eben auch sterben.

Maike Albath: Erschütternd ist die Schnelligkeit, in der dann oft diese Konvertiten auch überzeugt werden und sich radikalisieren. Sie sagten schon vorhin, Uwe Backes, dass es Parallelen gibt zu den jungen Männern, die empfänglich sind für das Gedankengut der Neonazis häufig. Sehen Sie noch mehr Parallelen?

Uwe Backes: Insgesamt haben wir es zu tun mit sehr jungen Männern, die in einer Orientierungsphase sich im Leben befinden, in einer Phase der Sozialisation, in der man offen ist für viele Einflüsse, nach Orientierung, nach Halt, nach Lebenssinn sucht. Und dann haben wir eben extremistische Angebote in unserer Gesellschaft.
Und eine Minderheit von Kindern und jungen Erwachsenen gerät in den Sog solcher extremistischer Angebote. Und unter dem Einfluss solcher extremistischer Orientierungsangebote, zum Teil verlockend klingender Orientierungsangebote, erlebt man dann sehr oft rasche Radikalisierung. Das heißt, dass eben Versprechungen gemacht werden, dass man da sich Lösungen verspricht für große Probleme. Es werden einfache Lösungen angeboten.

Man glaubt, man hat gewissermaßen einen Schlüssel gefunden, um viele gesellschaftliche Probleme damit lösen zu können. Man sucht nach Orientierung in einer Gemeinschaft. Man möchte Geborgenheit, Aufgehobenheit in der Gemeinschaft erlangen, etwas, was man vielleicht in der eigenen Familie, im Freundeskreis nicht finden konnte. Und dann plötzlich entsteht eine ungeheure Sogwirkung und diese schnelle Radikalisierung, die wir immer wieder in solchen Fällen beobachten können, und zwar nicht nur in der salafistischen Szene, sondern durchaus auch in der rechtsextremistischen Szene.

Maike Albath: Was erschütternd ist, ist, dass diese jungen Männer das oft wie ein Pop-Phänomen begreifen. Früher hat es diese Tendenzen sicherlich auch gegeben. Das waren dann vielleicht Sekten. Aber diese jungen Menschen waren nicht so gefährlich wie diese Graswurzel-Dschihadisten, wie Sie sie an einer Stelle auch nennen, Wolf Schmidt. Denn diese jungen Männer sind eben bereit, sogar zu sterben. Und gleichzeitig scheint es eine Möglichkeit zu sein, kurz einmal berühmt zu sein.
Warum hat ausgerechnet der Islamismus zum Teil diese Pop-Ausstrahlung? Konnten Sie das klären ?

Wolf Schmidt: Ich finde, man muss auf jeden Fall sagen, dass es um ein extremes Minderheitenphänomen geht. Es ist wirklich eine Splitterbewegung, von der wir hier sprechen. Momentan ist ja auch der Salafismus ganz groß ein Thema. Und selbst innerhalb des Salafismus, was für sich genommen ja nur wenige tausend Leute sind in Deutschland, ist quasi der Flügel, der Gewalt befürwortet oder bereit ist zu Gewalt, ein kleiner.

Maike Albath: Aber sie können großes Unglück anrichten. Wenn man an die Sauerlandgruppe denkt oder an andere, mit einer Kofferbombe können tausende von Menschen in den Tod gerissen werden.

Wolf Schmidt: Das Gefährdungspotenzial ist ein großes. Zum Teil ist es auch so, dass diese jungen Menschen – ich habe sie an einer Stelle mal als "gefährliche Dilettanten" bezeichnet, weil sie nicht unbedingt das sind, was man manchmal als Klischee im Kopf hat, die Master Minds des Bösen. Zum Teil sind das wirklich Leute, die da auch tatsächlich nach einer Erfahrung von Drogen, von Kriminalität, von einer extrem gebrochenen Biographie in diesen Gruppen landen und die dann tatsächlich auch ein stückweit – manche von ihnen –, um ein Selbstbewusstsein draus zu ziehen, so extrem provozieren zu können, so aufzutreten, radikal dann auch in irgendwelchen Videobotschaften sozusagen oder auch, wie es jetzt passiert, ehemalige Rapper, die dann Lieder singen und Osama bin Laden verherrlichen oder zum Dschihad aufrufen – geht nach Afghanistan, kämpft dort usw. usf. Da spielt auch ein stückweit dieses provokative Element eine Rolle.

Die Formulierung vom Graswurzel-Dschihad heißt ja dann auch, dass es nicht unbedingt so funktioniert, wie man sich das vielleicht auch lange vorgestellt hat, dass es da eine Organisation gibt, die heißt Al-Kaida und da fährt man hin und lässt sich ausbilden,und dann kommt man zurück nach Europa und begeht Anschläge, sondern dass man mittlerweile sozusagen, um teilzuhaben an dieser Ideologie, da reicht es, man geht auf You Tube oder Facebook oder schaut sich zu Hause die Videos an. Man übersetzt vielleicht auch selber ein Video, was passiert. Junge Leute machen das dann. Die machen einen Untertitel drunter oder ihr eigenes Logo und posten das dann wieder im Internet, so dass man auch von zu Hause am Schreibtisch Teil dieser globalen Ideologie und dieser Bewegung werden kann. Und das macht das Ganze zumindest viel, viel einfacher als noch vor 5, 6 oder 10 Jahren.

Maike Albath: Das sagt Wolf Schmidt ja ganz deutlich in seinem Buch, dass das Internet und die neuen Medien diese ganze Bewegung unglaublich verändert haben und auch noch einmal schneller gemacht haben. Auch damit hängt es sicherlich zusammen, dass die Radikalisierung so rasant ist.

Wie ist es denn überhaupt mit den Frauen? Da haben wir ja jetzt im Zusammenhang mit den extrem rechten Tendenzen auch noch gar nicht drüber gesprochen. Es scheint ja ein Phänomen zu sein, das immer wieder Männer sehr stark anspricht.

Uwe Backes: Es ist nach wie vor so, dass es vor allem männliche Jugendliche und junge Erwachsene sind, die von diesen Szenen angesprochen werden. Und das gilt für die Salafisten in ähnlicher Weise wie für die rechtsextremistischen Jugendszenen. Aber wir haben natürlich überall auch Frauen, und zwar nicht nur als Partnerinnen der männlichen Aktivisten, sondern durchaus auch in Minderheiten in einer sehr aktiven Rolle.

Und ich habe den Eindruck, dass ja parallel zu auch dem Abbau der Geschlechterdifferenzen in unserer Gesellschaft insgesamt auch die jungen Frauen da etwas nachziehen, dass wir also jetzt Phänomene beobachten können in den letzten 10, 15 Jahren, die es in dieser Weise vor 30 Jahren noch nicht gegeben hat Aber dennoch, insgesamt gesehen wird doch die große Masse nach wie vor den jungen Männern gestellt.

Wolf Schmidt: Ich finde auch, dass beim NSU man auch jetzt schon sagen kann, dass sich zumindest abzeichnet aus den Ermittlungen und den Akten, dass Beate Zschäpe zumindest eine sehr aktive Rolle gespielt hat, nach außen hin die bürgerliche Fassade aufrecht zu erhalten für diese Terrorgruppe, dass sie dann Kontakt gepflegt hat zu den Nachbarn usw. usf. und dadurch dafür gesorgt hat, dass das relativ unauffällig abläuft, was natürlich dann aber eigentlich wieder ein bisschen dem Klischee entsprechen würde, was man sich so vorstellt von Frauen in rechtsextremen Gruppen, dass sie eher so für den Zusammenhalt zuständig sind.

Maike Albath: Uwe Backes, für Sie, als jemand, der das aus einer wissenschaftlichen Perspektive beobachtet, wie verhält es sich denn mit der Resonanz der Medien auf diese extremistischen Entwicklungen? Das ist ja zum Teil das, man merkt es auch an den Schicksalen, die Wolf Schmidt in seinem Buch schildert, was diese jungen Männer gerade erreichen wollen. Sie wollen berühmt sein für einen kurzen Moment, und sei es mit einem Video auf You Tube. Wie sollte man damit idealerweise umgehen? Hat sich dieses Verhältnis auch noch einmal zugespitzt in den letzten Jahren, dass das Forum ungeheuer groß ist, das wir diesem Phänomen geben? Gleichzeitig gibt es natürlich eine Berichtspflicht.

Uwe Backes: Es gibt nicht die Medien, sondern wir haben einen Teil der Medien, die an dem Thema aus sensationellen Gründen interessiert sind, weil sie wissen, dass sie da ihr Publikum finden, und auch nicht unbedingt interessiert sind an einer differenzierten Darstellung, sondern oft dazu neigen zuzuspitzen und sozusagen der ganzen Sache noch eins drauf zu setzen, damit man damit Kasse machen kann. Aber das ist zum Glück nicht bei allen Medien der Fall. Wir haben durchaus auch eine Menge an Journalisten, die eine differenzierte Berichterstattung pflegen im Umgang mit diesen Themen, die uns mit sehr gründlichen und sehr solide recherchierten Informationen zum Thema versorgen.

Natürlich sind die Journalisten beim Umgang mit diesem Thema immer in einer Gefahr. Auch wenn man als Journalist sehr verantwortungsvoll an das Thema herangeht, unterliegt man der Gefahr, dass man das Geschäft der Extremisten ungewollt betreibt. Denn, wie Sie schon richtig gesagt haben, Extremisten haben ja ein Interesse an der Publizität. Terroristen wollen ja in der Regel von Schrecken erzeugen kann man ja nur, wenn die Tat publik wird. Also braucht man Medien, die die Kunde von den Taten in die breitere Öffentlichkeit bringen.

Und Journalisten unterliegen natürlich der Gefahr, dass sie sozusagen das Kalkül des Terroristen aufnehmen und zum Medium des Terroristen werden oder so eine Art von ungewollter Symbiose zwischen Journalisten und Terroristen und Extremisten entsteht.

Maike Albath: Wobei Sie ja schon auch sagen, dass das Interesse eigentlich eher gering war an diesen deutschen Taliban eine zeitlang. Man hat es lange auch unterschätzt und nicht richtig wahrhaben wollen.

Wolf Schmidt: Das Interesse zumindest, zu fragen, wer steht denn hinter den Leuten, die da diese Videos machen? Wo kommen die eigentlich her? Was haben die für eine Biographie? Was hat die radikal gemacht? Was sind vielleicht auch Entwicklungen der letzten 10 Jahre gewesen, die es ihnen verdammt einfach gemacht haben in der Propaganda? Weil, sozusagen die große Erzählung der Islamisten ist ja, die Muslime werden weltweit unterdrückt. Sie werden zum Teil bekriegt – in Afghanistan usw. usf. Dagegen müsst ihr euch doch wehren.

Wenn man dann noch unterfüttert mit diesen ganzen Videos aus Abu Ghraib, Guantanamo, die sich quasi in einer Endlosschleife in kleinen Gruppen weiter und weiter sich anschaut, ja, dann hat man es natürlich auch relativ leicht, weil es tatsächlich ihnen leicht gemacht wurde, diese Propaganda, diese Videos, diese Taten, Gräueltaten zu instrumentalisieren für ihre Propaganda.

Maike Albath: Wir sprachen über Wolf Schmidts "Jung. Deutsch. Taliban", mit dem Autor und mit Uwe Backes. Wir haben noch Zeit für einen Buchtipp. Was empfehlen Sie, Herr Backes?

Uwe Backes: Ich empfehle von Alois Reglin, einem schweizerischen Politikwissenschaftler, der lange Zeit an der Universität St. Gallen gelehrt hat, das Buch "Machtteilung", eine Ideengeschichte des Verfassungsstaates.

Maike Albath: Das ist erschienen in der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft. Und Sie, Wolf Schmidt?

Wolf Schmidt: Ich empfehle von Yassin Musharbas, meinem Kollegen von der ZEIT, "Radikal". Das ist ein Polit-Thriller, kein Sachbuch. Und er lässt da Islamisten auf radikale Islamhasser prallen. Das ist ein sehr spannendes Buch.

Maike Albath: Bei Kiepenheuer & Witsch ist dieses Buch herausgekommen. Mit diesen beiden Empfehlungen geht Lesart Spezial aus dem Grillo-Theater in Essen zu Ende. Ich bedanke mich bei dem Kulturwissenschaftlichen Institut, der Buchhandlung Proust, der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung und dem Schauspiel Essen für die Zusammenarbeit und vor allen Dingen bei meinen beiden Gästen Wolf Schmidt und Uwe Backes für ihre Teilnahme.
Buchcover "Jung, deutsch, Taliban" von Wolf Schmidt
Buchcover "Jung, deutsch, Taliban" von Wolf Schmidt© Ch. Links Verlag