Jüdisch-muslimischer Dialog

Im Spiegel des Anderen

14:11 Minuten
Symbole des Judentums und des Islam nebeneinander.
Angehörige des Judentums und des Islam haben mehr miteinander gemeinsam, als man hinlänglich denkt. Aus dem Dialog entstehen fruchtbare Einsichten in die je eigenen Positionen. © picture-alliance / Godong | Hanan Isachar/GODONG
Mira Sievers im Gespräch mit Sandra Stalinski · 03.07.2022
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Denkt man in Deutschland an Religion, fallen einem vor allem die Positionen der christlichen Kirchen ein. Die Theologin Mira Sievers plädiert für ein vollständigeres Bild und erklärt, warum der Dialog zwischen Juden und Muslimen so fruchtbar ist.
„Das jüdisch-muslimische Gespräch ist jünger im deutschen Kontext als der christlich-islamische oder auch der christlich-jüdische Dialog, aber zunehmend von Bedeutung“, sagt Mira Sievers. Sie ist muslimische Theologin und Juniorprofessorin für islamische Glaubensgrundlagen, Philosophie und Ethik an der Humboldt-Universität zu Berlin – und hat jüngst mit ihrem jüdischen Kollegen, dem Rabbiner Jehoschua Ahrens ein Buch zu medizinethischen Fragen veröffentlicht.
„Man hat vielleicht nicht diese gleiche Geschichte und Erfahrung, aber immer mehr entsteht ein Bewusstsein dafür, dass Judentum und Islam viele Erfahrungen teilen“, sagt sie. Angehörige beider Glaubensrichtungen müssten sich beispielsweise aus einer Position der Minderheit in den gesellschaftlichen Diskurs einbringen. Es gebe aber auch religiöse Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten: die hohe Bedeutung des Rechtsdiskurses, der Schriftauslegung, eine lebendige Gelehrtenkultur. "Und diese Gemeinsamkeiten führen dazu, dass muslimische und jüdische Stimmen teilweise feststellen, dass das Gespräch unglaublich fruchtbar ist und auch Spaß macht“, sagt Sievers.

Beispiel: Schwangerschaftsabbruch

Der Mehrwert eines solchen Gesprächs liegt auf verschiedenen Ebenen. Die Theologin illustriert das am Beispiel der Frage des Schwangerschaftsabbruchs. Von ihrem Co-Autor, dem Rabbiner Ahrens, habe sie gelernt, dass im orthodoxen Judentum zwei gegensätzliche Meinungen vertreten würden, wobei die restriktivere im US-amerikanischen Kontext entstanden sei.
„Als muslimische Theologin kann man gerade von dieser Perspektive auf die jüdische Position ein Gefühl dafür bekommen, was es eigentlich bedeutet, eigene religiöse Positionen in einem bestimmten Kontext herauszubilden.“ Der israelische Rabbiner habe beispielsweise viel unbefangener seine Texte schreiben können als der US-amerikanische. „Das heißt: Wir sehen sozusagen im Spiegel des Anderen, was wir über unseren eigenen Kontext lernen können, was vielleicht nicht auf den ersten Blick ersichtlich ist.“

Liberale Positionen im Islam 

Sievers findet es erstaunlich, dass die Entscheidung des Supreme Court, das landesweite Abtreibungsrecht in den USA zu kippen, oft mit den Worten kommentiert werde, dass sich das Land nun in Richtung Taliban entwickle. Dabei handle es sich doch um eine Position, die in den USA von christlicher Seite stark gemacht und dann auf den Islam projiziert worden sei, „obwohl wir eigentlich in der islamischen Tradition eine sehr viel liberalere Haltung zu Schwangerschaftsabbrüchen im Allgemeinen finden können“.
Zwar gebe es auch hier Gegner, sagt Sievers, „aber wir finden gerade in mehreren Rechtsschulen Meinungen, die für eine relativ lange Zeit Schwangerschaftsabbrüche für zulässig erachten. Und das ist eine Position, die im deutschen Kontext nicht so bekannt ist.“

Das Recht auf Vollständigkeit

Die Positionen der Religionen zu diesem wie weiteren ethischen Themen seien in Deutschland alles andere als klar, sagt Sievers – „und da ein vollständigeres Bild zu bekommen, das würde ich sagen, ist auch ein Recht der Gesellschaft“.

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