Medienethiker zum Fall Hingst

"Nicht jeder Journalist hat den psychologischen Blick"

14:56 Minuten
Lupe über einer Menschenreihe
Wie viel Rücksichtnahme durfte die Bloggerin Sophie Hingst von den Medien erwarten? © imago stock / Ikon Images / Gary Waters
Christian Schicha im Gespräch mit Katja Bigalke und Martin Böttcher  · 03.08.2019
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Eine erfundene Geschichte, Aufdeckung und dann eine tote Autorin. Der Fall Sophie Hingst ist tragisch, weil die junge Bloggerin mutmaßlich psychisch krank war. Hätte der "Spiegel", der die Fälschungen enthüllte, anders mit dem Fall umgehen müssen?
Sophie Hingst hat Geschichten erfunden, unter anderem die, dass sie eine jüdische Familie hatte. Jetzt ist die junge Bloggerin tot, mutmaßlich durch Suizid – einige Zeit, nachdem der "Spiegel" aufdeckte, dass Sophie Hingsts Geschichten nicht der Wahrheit entsprachen. Das wiederum warf bei vielen die Frage auf, ob der "Spiegel" richtig gehandelt hatte, als er die Täuschung öffentlich machte - oder ob er die möglicherweise psychisch kranke Autorin nicht hätte schützen müssen.

Enthüllungen grundsätzlich in Ordnung

"Grundsätzlich ist der Mensch immer wichtiger als die Geschichte, und wenn es um Leben und Tod geht, erst recht", sagt Christian Schicha, Professor für Medienethik an der Universität Erlangen-Nürnberg. Aber dieser Schutz gilt eben vor allem für Privatpersonen. Und Sophie Hingst habe "doch eine große Prominenz schon erfahren, sie war preisgekrönt, hat Öffentlichkeit hergestellt", gibt Schicha zu bedenken. "Personen, die in die Öffentlichkeit treten, müssen ihr Handeln auch vor der Öffentlichkeit legitimieren und sich auch kritische Fragen gefallen lassen."
Insofern sei es grundsätzlich erstmal in Ordnung, wenn der "Spiegel" oder andere Medien enthüllten, dass jemand sich falsch verhalten und Geschichten erfunden habe. Sollte sich der "Spiegel" Hingst unter Vorspiegelung falscher Tatsachen genähert haben, sei das zu verurteilen, sagt Schicha. Ob dies so gewesen sei, könne er allerdings nicht beurteilen. Auch könne man nicht von jedem Journalisten "den psychologischen Blick" erwarten, dass er einschätzen könne, ob das Gegenüber psychisch labil oder gestört sei. "Das ist, glaube ich, eine Überforderung."

Weniger Personalisierung, mehr Hintergrund

Doch der Fall Hingst wirft weitere Fragen auf: Etwa warum es so lange gedauert hat, bis ihre Geschichten angezweifelt wurden. Liegt es vielleicht daran, dass Hingst - genauso wie der ebenfalls der Fälschung überführte Ex-Spiegel-Reporter Claas Relotius - mit ihren Geschichten bei Publikum und Redaktionen genau den richtigen Nerv getroffen haben? Weil unsere Gier nach gut erzählten Geschichten grenzenlos geworden ist? Und weil als gut erzählte Geschichte heute immer eine gilt, die emotionalisiert und zuspitzt?
"Natürlich funktioniert Medienberichterstattung in erster Linie über Personalisierung", sagt Schicha. Er würde sich aber wünschen, dass sich Geschichten mehr um Themen drehten und weniger um Auseinandersetzungen zum Beispiel zwischen Politiker A oder B. "Es geht darum, über gesellschaftlich relevante Sachverhalte zu berichten."
(uko)
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