Die Heiler im Schatten der Hohenzollernburg
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Nach dem Niedergang der Textilindustrie hat sich Hechingen in Baden-Württemberg zu einem Zentrum für Medizintechnik entwickelt. 45 Unternehmen sind es inzwischen - den Anfang machte vor fünf Jahrzehnten ein schwedischer Investor.
Ein Patient liegt auf der Intensivstation, er ist an einem Überwachungsmonitor angeschlossen. Neben seinem Bett stehen zig Geräte. Über einen Kunststoffschlauch, einem Tubus, wird er beamtet. Sogenannte Perfusoren dosieren die Zufuhr von Medikamenten. Sobald etwas nicht stimmt, gibt es Alarm.
Ohne den vielfältigen Einsatz von medizintechnischen Geräten würde der Patient nicht mehr leben. Die Medizintechnik entwickelt sich rasant, immer neue Innovationen kommen dabei zum Einsatz. Im Industriegebiet von Hechingen in Baden-Württemberg steht ein Kreislaufunterstützungssystem kurz vor dem Markteintritt. Dort hat das Unternehmen Cardiobridge seinen Sitz: "Unsere Patienten haben eine linksventrikuläre Schwäche, das heißt, der linke Ventrikel, der dafür verantwortlich ist, das Blut durch den gesamten Körper zu pumpen, funktioniert nicht mehr richtig."
Geschäftsführer Thomas Radtke hält einen längeren, dünnen Schlauch in der Hand. Durch ein zartes Metallkörbchen geschützt liegt am Ende des Schlauches eine kleine Pumpe. Ein winziger Schnitt in der Leiste reicht aus, um die Pumpe von der Leiste aus bis kurz vor ein krankes Herz zu bringen: "Und da sehen Sie jetzt wie zwei Flügel herauskommen, und diese zwei Flügel drehen sich dann einfach. Das können Sie sich vorstellen wie ein Schiffsmotor, der dann in der absteigenden Aorta sitzt."
"Weltzentrum der Medizintechnik"
Rund 30 Mitarbeiter sind bei Cardiobridge beschäftigt, darunter Medizintechnikingenieure, Feinmechaniker und Produktionsspezialisten. In der direkten Nachbarschaft von Cardiobridge sowie in der gesamten Region finden sich weitere große Unternehmen, die ebenfalls medizintechnische Produkte entwickeln und produzieren. Künstliche Nieren für Dialysegeräte werden in einer amerikanischen Firma hergestellt, daneben Herzklappen. Und ein paar hundert Meter weiter werden Stents produziert, Implantate, die Gefäße offen halten, damit das Blut durchfließen kann: "Es gibt keine konkurrierenden medizintechnischen Unternehmen, sondern bei uns hat jedes medizintechnische Unternehmen ein anderes Produkt."
"Bei uns", das ist beim Kompetenznetzwerk Medical Valley Hechingen. Heiko Zimmermann managt den Zusammenschluss von derzeit rund 45 Unternehmen. Firmen aus der gesamten Neckar-Alb Region sind dabei, auch Tuttlingen, das den Beinnamen "Weltzentrum der Medizintechnik" trägt, ist mit Unternehmen vertreten.
Am Anfang war ein Schwede
Die Region zu Füßen der Hohenzollernburg gilt weltweit als eine der wichtigsten Standorte im Bereich Medizintechnik. Den Anfang machte dabei ein Schwede: "Das war in den 70er Jahren, wo die Textilindustrie hier in Hechingen einen Niedergang erfahren hat, es wurden Tausende von Arbeitsplätzen frei", sagt Zimmermann.
"Das hat begonnen mit der Firma Gambro damals, heute Baxter. Ein schwedisches Unternehmen. Der Gründer dieses Unternehmens, der fuhr immer in den Schwarzwald zur Kur. Der hat sich eines Tages gedacht, eigentlich könnte ich ja in Süddeutschland, das ist so schön, eine Fabrik bauen." Der schwedische Unternehmer Holger Crafoord erkundigte sich im Stuttgarter Wirtschaftsministerium nach einem geeigneten Standort. Dort wurde ihm Hechingen empfohlen, im Zollernalbkreis gab es zu dieser Zeit viele Arbeitssuchende.
Die Stadt mit der weithin sichtbaren Burg Hohenzollern liegt zwar wunderschön, doch die industriellen Schwergewichte waren damals - und sind bis heute - woanders zu finden. Aber dem schwedischen Investor gefiel wohl die waldreiche Gegend: "So ist es zu der Ansiedlung des ersten großen medizintechnischen Unternehmens vor mittlerweile fast 50 Jahren gekommen."
Mit den Jahren haben sich weitere Firmen angesiedelt und bis heute kommen neue hinzu. Mit Boso, einem der traditionsreichsten Unternehmen im Bereich der Medizintechnik, ist in Jungingen bei Hechingen sogar eine Firma mit einer fast 100-jährigen Firmengeschichte vertreten. Hier wurde das erste Blutdruck-Selbstmessgerät mit Stethoskop entwickelt, längst werden auch digitale Selbstmessgerät von rund 100 Mitarbeitern hergestellt.
Know-how bündeln
Geschäftsführer Hans Peter Haug erklärt die Funktion der einzelnen Geräte: "Vom mechanischen Pumpgerät, das Sie von jeder Arztpraxis kennen, über das 24-Stunden-Messgerät, das Sie, wie der Name schon sagt, 24 Stunden tragen, bis hin zum ABI Messgerät, das zur kardiovaskulären Untersuchung herangezogen wird - ob Sie Blockaden in den Gefäßen haben, die langfristig zu einem Herzinfarkt, zu einem Schlaganfall, schließlich zum Tod führen können."
Auch Boso ist Mitglied im Medical Valley Hechingen und schickt seine Mitarbeiter zu Fortbildungen in die gemeinsame Akademie des Netzwerkes. Ziel sei es, das Know-how zu bündeln, erklärt Geschäftsführer Zimmermann. "Und das dritte Standbein, das wir jetzt seit kurzem haben, seit ungefähr eineinhalb Jahren: Wir wollen unser Wissen auch anderen zur Verfügung stellen."
Im Mittelpunkt stehen vor allem Startups im Bereich der Medizintechnik. Dabei kooperieren die medizintechnischen Schwergewichte des Netzwerks zum Beispiel mit der MedTech Startup School im benachbarten Tübingen. Dort entwickeln vor allem junge Menschen innerhalb kürzester Zeit aus einer Idee im medizintechnischen Bereich ein tragfähiges Geschäftsmodell. Praktische Unterstützung gibt es dabei im Hechinger Valley: "Wie zum Beispiel die Produktkalkulation; wir zeigen denen, wie ein junges Unternehmen - wir haben ja viele Beispiele dafür - aus einem Startup zu einem Weltkonzern geworden ist. Und wir zeigen jungen Startup-Unternehmen: Wie kann man Prototypen herstellen, welche Möglichkeiten gibt es, auf einfache Art und Weise heute zu solchen Dingen zu kommen."
Um künftig auch in der ländlichen Region bleiben zu können, sind die Kontakte zum Nachwuchs für fast alle Unternehmen im Netzwerk extrem wichtig. Auch wenn es im Vergleich zu den Metropolen hier noch bezahlbaren Wohnraum und viele andere Vorteile gibt, fehlen Fachleute, sagt Cardiobridge Geschäftsführer Thomas Radtke: "Es fällt wirklich schwer mittlerweile, Leute aus Hamburg, München oder Berlin einzustellen und die zu einem Umzug zu bewegen. Das wird zunehmend schwieriger."