Maxim Biller: "Sechs Koffer"

Billers Familiengeschichte als Krimi

"Sechs Koffer" von Maxim Biller
Der Autor präsentiert in seinem neuen Buch verschiedene Theorien zur Verhaftung und späteren Hinrichtung seines Großvaters. © Verlag Kiepenheuer und Witsch/picture alliance/dpa/Foto: Swen Pförtner
Von Carsten Hueck · 01.09.2018
Die Hauptfiguren in Maxim Billers Buch "Sechs Koffer" sind Juden, die in Russland, Deutschland oder Südamerika leben und über Verfolgung, Antisemitismus, Zusammenhalt und Betrug berichten. Eine intelligente und rührende Geschichte.
"Ein wahres Kunststück" sei dieses Buch, lobt Büchnerpreisträger Durs Grünbein; "ein Edelstein", so preist auch Dichterkollege Robert Menasse Maxim Billers neuen Roman. Wer, fragt man sich, möchte aber einen Edelstein verschlingen?
Und überhaupt: warum soll man den beiden Glauben schenken? Denn in "Sechs Koffer" geht es vor allem darum, dass niemandem zu glauben ist, die Wahrheit immer eine Frage von Perspektive und Umständen und vielleicht überhaupt nicht zu erfassen ist.

Gemeinsam sind ihnen ihre Koffer und ihre Geschichten

Insbesondere erfahren das diejenigen, die nicht fest im Sattel, sondern auf gepackten Koffern sitzen – die Hauptfiguren in Billers Roman sind Juden. Sie leben in Russland, der Tschechoslowakei, in Deutschland, der Schweiz, in Kanada oder Südamerika. Ob alt oder jung, sie müssen sich bewegen, auch wenn sie vorübergehend sesshaft sind. Gemeinsam sind ihnen ihre Koffer und ihre Geschichten – Bürde und Brot zugleich.
Sie enthalten Erinnerungen: Erfahrungen von Verfolgung und Überleben, von Antisemitismus, Zusammenhalt und Betrug. Nicht zufällig zitiert Biller in seinem Buch Bertolt Brechts "Flüchtlingsgespräche", aus denen auch das Motto des Romans stammt. Flüchtlinge sind auch Billers Figuren: Davonläufer und Weitermacher, Untergetauchte, Überlebende, Lebenskünstler.

Der Autor arbeitet, wie häufig, mit Elementen seiner Biographie. "Sechs Koffer" ist Familiengeschichte und Krimi. Die Frage, wer für den Tod seines Großvaters, des "Tate", verantwortlich ist, treibt den Ich-Erzähler an, der gerne auch mal zum auktorialen Erzähler wird. Der Autor selbst ist dabei immer erkennbar.

Jemand muss ihn denunziert haben

Biller präsentiert verschiedene Theorien zur Verhaftung und späteren Hinrichtung seines Großvaters durch die sowjetische Geheimpolizei. Jemand muss ihn denunziert haben. Billers Vater und dessen drei Brüder sowie Mutter und Tante kommen dafür in Frage. Jeder von diesen rückt in jeweils einem Kapitel in den Vordergrund. Als Leser mag man sie eigentlich alle, auch wenn die anderen beziehungsweise der Erzähler schlecht über sie reden.
Die Wahrheit kommt am Ende nicht heraus. Muss sie auch nicht. Viel wichtiger ist, das scheint dieser Roman zu sagen, dass man übereinander und miteinander redet. Dass man Geschichten hinterfragt und sich seine eigenen Gedanken macht.
Ein "Edelstein" ist dieser Roman gottlob nicht. Er ist intelligente, manchmal witzige, manchmal rührende Unterhaltungsliteratur. Klug gedacht, gut geschrieben. Biller spielt mit dem Leser. Sein Spiel aber ist kein Selbstzweck, sondern Ausdruck nervöser Souveränität. Ein Spiel aus Verzweiflung. Denn selbst wenn es eine Wahrheit gäbe, wie sollte man sie glauben nach der Erfahrung eines Jahrhunderts, in dem allzu fest gebaute und geglaubte Wahrheiten Millionen Menschen unter sich begraben haben.

Maxim Biller: "Sechs Koffer"
Köln, Verlag Kiepenheuer und Witsch, 2018
208 Seiten, 19 Euro

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