Maxim Biller: "Biografie"

Neobarocke Wunderkammer

Maxim Biller, Schriftsteller
Der Schriftsteller Maxim Biller © picture alliance/dpa/Karlheinz Schindler
Von Ruthard Stäblein · 29.03.2016
Maxim Biller ist bekannt für seine ausschweifenden Werke. Auch für seinen neuen, 900 Seiten dicken Roman "Biografie", der Geschichte zweier psychisch versehrter Nachkommen von Holocaust-Überlebenden, braucht man Geduld. Doch der glänzende Erzählstil entschädigt, meint unser Kritiker.
Der Millionenerbe und Stotterer Noah sowie sein bester Freund Soli, der Schriftsteller und Spanner: Das sind die Hauptfiguren in diesem figurenreichen Roman. "Zwei Halbüberlebende" aus der zweiten Generation von Holocaustüberlebenden aus Galizien.
Dazu gesellen sich: Solis Schwester Serafina, kein Engel, wie der Name verspricht, sondern ein dickleibiges Monster. Ein mädchenschändender Rabbi aus Hamburg. Ein impotenter deutscher Schriftsteller mit Namen Clausi-Mausi und dutzendweise weitere verunstaltete Personen. Hauptsächlich Juden oder Nazis.

Wie in einem Film von Monty Python

Ein Gruselkabinett zum Grinsen, wie in einem Film von Monty Python, in dem Brian als Ersatz-Jesus am Kreuz hängt und "On the bright side of life" singt. Nur dass es in Billers "Biografie" nicht immer zum Lachen ist, sondern seitenweise unerträglich wird, bis man den Grund für die Tragikomik erkennt.
Der liegt in der Erbfolge: Noahs und Solis Väter stammen aus demselben Kaff, aus Buczacz, in der heutigen Westukraine gelegen. Beide haben ihre Väter verraten, um zu überleben. Der eine an die Nazis, der andere an den kommunistischen Geheimdienst. Beide Väter haben ihre Schuld verleugnet und kompensiert und dabei an die Kinder weiter gegeben. Der eine hat mit Immobilien spekuliert, den einzigen Sohn Noah verwöhnt und dabei schon im Kinderzimmer mit einer Videokamera überwacht.

Das schlechte Gewissen

Das Ergebnis. Noah hat ein schlechtes Gewissen, will es loswerden, indem er sein Erbe für die Rettung der Menschheit verschleudert. Noah will sich quälen, wird Masochist, findet Befriedigung nur mit dicken Frauen, die ihn niederdrücken. Der andere Vater gibt seine Schuld weiter als Tyrann, der seinen Sohn Solomon, Soli, schlägt, zu Selbstdisziplin und Leistungsexzessen zwingt.
Die Folge: Soli wird nicht wie Salomon weise sondern einsam, hasst seinen Vater, dieses Ungeheuer, der ihn mit drei Jahren zum Großvater nach Moskau schickt und dort für ein Jahr vergisst. Soli wird gefühlskalt, hält Frauen auf Distanz, wird – eben –Spanner. Ein onanierender Heinrich Heine.
Beide wollen sich aus dem Schlamassel retten. Noah inszeniert seine Entführung und Enthauptung durch Djihadisten im Südsudan. Nach seiner Beerdigung in Israel will er ein neues, ein einfaches Sexualleben mit Nataschale Rubinstein beginnen. Soli wird beim Spannen in einer Berliner Sauna von Clausi-Mausi erwischt und erpresst. Soli will den Zeugen beseitigen.

Knallharte Dialoge

Es kommt zu abwegigen Episoden, unglaublich glänzend erzählt, mit knallharten Dialogen und aberwitzigen Pointen. So schlagfertig gesetzt, wie man es vom Autor Maxim Biller kennt und im "Literarischen Quartett" von ihm erwartet. Aber wie im Fernsehen, wo er ständig die anderen unterbricht und beleidigt, so entgleist er auch ständig in seiner "Biografie".
Woran liegt das im Roman? – An einer gewissen Selbstüberschätzung. Im Roman heißt es zwar des Öfteren es gäbe keinen Gott. Aber für die Welt dieses Biller-Romans gilt das nicht. Denn da offenbart er sich auf jeder Seite. Und dieser Gott heißt Soli und spielt den Alles-Erzähler. Er taucht gleich in mehreren Personen auf. Als Ich-Erzähler Solomon, der die Leiden seiner Seele spiegelt.

Ständiger Perspektivwechsel

Als Wir-Erzähler, der die Wunden und Auszeichnungen der "Second-Generation", der Kinder von Holocaust-Überlebenden, zeigt. Und als "olympischer Erzähler", der alles sieht und alles weiß, was das recht umfangreiche Personal des Romans erfährt. Dieser multiple Erzähler wechselt ständig die Perspektive, sodass einem beim Lesen schwindlig wird. Der Roman ist hybrid, hat mehrere Motoren und wechselt ständig die Gangart.
Dadurch schillert diese "Biografie" in allen Farben und Formen wie eine neobarocke Wunderkammer. Neben Missgriffen funkeln Juwelen. Und immer wenn die Freundschaft zwischen Noah und Soli zum Tragen kommt, fängt der Roman an vor Witz zu sprühen, vor Wärme zu glühen. Diese Freundschaft, diese sublime Liebe, rettet den Roman.

Maxim Biller: "Biografie",
KiWi 2016, 895 Seiten, 29,99 Euro
(erscheint am 30. März 2016)