Max Annas: "Morduntersuchungskommission. Der Fall Melchior Nikoleit"

Lärm und Gewalt

03:16 Minuten
Das Cover von Max Annas' Buch: "Morduntersuchungskommission. Der Fall Melchior Nikoleit" auf orange-weißem Hintergrund. Auf dem Cover sind zwei Fotos in verschiedenen Größen zu sehen, Autor und Titel sind in typischer Schreibmaschinenschrift gedruckt. Ein Gummi scheint horizontal und vertikal über das Ensemble gespannt zu sein.
Die DDR des Jahres 1985 pur: Max Annas' neuer Roman ist bis in die Details stimmig. © Rowohlt / Deutschlandradio
Von Tobias Gohlis · 07.08.2020
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Alle waren verdächtig: Max Annas erzählt im zweiten Band seiner Reihe "Morduntersuchungskommission" von der Punkszene im Jena des Jahres 1985 und vom Kampf eines Staates gegen die Gesellschaft.
DDR 1985. Lange haben Julia und Melchior, Biber und Sohle nach einem echt punkigen Namen für ihre Band gesucht. "Ernteeinsatz" ist ihnen schließlich eingefallen. Damit wollten sie Jena aufmischen.
Doch über ihre Musik haben die Kulturbeauftragten des Bezirks das letzte Wort: Sie erteilen keine Auftrittserlaubnis, denn der Band "fehlt komplett ein erkennbares Konzept". Als dieses Urteil gefällt wird, sind sie schon keine Band mehr, ihr Bassist ist erschlagen worden.

Punk hält Einzug in der DDR

"Der Fall Melchior Nikoleit" lautet ganz schlicht der zweite der auf vier Bände angelegten Serie "Morduntersuchungskommission" von Max Annas. Aber der hat es in sich.
Nach dem spektakulären Start der Serie mit dem Mord an einem schwarzen Vertragsarbeiter durch Nazis – die es in der DDR nicht geben durfte und deshalb nicht gab –, stellt Max Annas Otto Castorp und seine Kollegen von der MuK Gera jetzt vor eine scheinbar routinemäßig zu lösende Aufgabe.
Aber die Lage hat sich verschlechtert. Gorbatschow ist neu an der Macht. Jugendliche, die sich nicht mehr ordentlich kleiden, Lärm statt Musik machen und sich in der Jungen Gemeinde versammeln, sind Signale des Zerfalls der sozialistischen Ordnung. Weshalb sie bespitzelt, unterwandert, verdroschen werden. Aus Sicht der "Organe" sind Punks einfach ekelhaft.
Trotzdem muss der Tod von Melchior aufgeklärt werden. Allerhand Unsozialistisches tritt bei der Untersuchung des familiären Umfelds zu Tage: ein NVA-Major, der Kriegsverbrechen begangen hat, ein staatlich lizensierter Devisenschmuggler, die übliche Nachbarschaftshilfe bei der Entwendung von Baumaterial, sadistische Prügler. Mehr als nur einer ist verdächtig. Doch keiner kann überführt werden.

Alles ist politisch

Im ersten Band war Otto Castorp noch der aufrechte Volkspolizist, der auch auf eigene Faust die Nazis bestraft, denen die Staatsmacht nichts anhaben will. Jetzt, eingeschüchtert, zermürbt von Alkohol- und Familienproblemen, will er nur noch ordentlich ermitteln: "Eine Morduntersuchung war schließlich nichts, das in irgendeiner Form mit Politik zu tun hatte."
Max Annas' Plot widerspricht dem entschieden: Alles ist politisch. Die Morduntersuchungskommission, die den Tod eines Jugendlichen nicht aufklären kann, weil sie gefesselt ist von Ideologie ebenso wie der naive, trotzige Protest der Punks, denen Max Annas eine erinnerungsstarke Stimme gibt.
Bis in die Details hinein ist die Geschichte, die er uns erzählt, DDR 1985 – und damit zugleich ein kompaktes, starkes Kapitel der nie endenden großen Erzählung von Unordnung und Gewalt.

Max Annas: "Morduntersuchungskommission. Der Fall Melchior Nikoleit"
Rowohlt, Hamburg 2020
336 Seiten, 20 Euro

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