Matthias Bormuth: "Erich Auerbach. Kulturphilosoph im Exil"

Die unvernünftige Wirklichkeit

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Cover von Matthias Bormuths "Erich Auerbach. Kulturphilosoph im Exil” vor Deutschlandfunk Kultur Hintergrund.
Die Essays in Matthias Bormuths Band bieten eine augenöffnende Leseerfahrung. © Wallstein Verlag / Deutschlandradio
Von Wolfgang Schneider · 11.06.2020
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Mit "Mimesis" schuf der Romanist Erich Auerbach ein epochales Werk über die abendländische Literatur. Matthias Bormuth legt nun eine anregende Sammlung von Essays vor, die die säkularisierte christliche Grundierung in Auerbachs Denken herausarbeitet.
Der Mediziner und Kulturwissenschaftler Matthias Bormuth verbindet gerne philosophische und existentielle Fragestellungen, etwa in seiner Studie über das suizidale Denken in der Moderne oder zuletzt im Essayband "Die Verunglückten", der am Beispiel der unterschiedlichen Lebenskatastrophen von Jean Améry, Ingeborg Bachmann, Uwe Johnson und Ulrike Meinhof die Zusammenhänge moderner Passionsgeschichten erkundete.

Das Epochenwerk "Mimesis"

Das Motiv der Passion durchzieht nun auch Bormuths neues Buch über den Romanisten und Kulturphilosophen Erich Auerbach (1892–1957). Es ist eine Sammlung von Essays, die Auerbachs intellektuelle Entwicklung mit dezenter biografischer Unterfütterung skizziert, seine Freundschaften mit Karl Löwith und Walter Benjamin beschreibt, vor allem aber die Grundgedanken von Auerbachs epochalem Buch "Mimesis" in ihrer Genese zu fassen sucht. "Mimesis" erschien 1946; die Studie über die "dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur" ist bis heute eines der einflussreichten Werke der Philologie des 20. Jahrhunderts.
Erschüttert durch das Erlebnis des Ersten Weltkriegs – er erlitt eine schwere Kriegsverletzung – und die tiefen gesellschaftlichen Krisen der Weimarer Republik, verfolgte Auerbach in seinen Literaturforschungen immer auch ein untergründiges "metaphysisches Bedürfnis". Durch die existentielle Zuspitzung des Erkenntnisinteresses bewahrte er seine philologische Arbeit davor, zur bloßen Anhäufung von Bildungswissen zu werden.

Emigration in die Türkei

Als Jude verlor er 1936 seinen Marburger Lehrstuhl. Er ging ins Exil nach Istanbul, wo unter Atatürks Modernisierungsimperativ die osmanischen und mohammedanischen Gelehrten entlassen wurden. Emigranten dagegen waren zum Aufbau einer westeuropäisch orientierten Universität willkommen.
Bormuth zeigt, wie das Exil "Mimesis" auf verschiedene Weise prägte. Zum einen bedingte der Mangel an Fachliteratur ein freieres, mutigeres, essayistisches Schreiben. Zum anderen war es die Erfahrung der Brüchigkeit aller scheinbar gesicherten bürgerlichen Verhältnisse durch die politische Bedrohung und den Krieg, die Auerbachs Wahrnehmung des Vorläufigen, Ungesicherten, Gefährdeten der menschlichen Existenz schärfte. Das kreatürliche Leiden und die soziale Marginalisierung wurden wichtige Aspekte in "Mimesis".

Das christliche Erbe in der Literatur

Augenöffnend ist es, wie Bormuth die säkularisierte christliche Grundierung in Auerbachs Denken herausarbeitet. Zur christlichen Passion gehört es, eine leidvolle, ungerechte Wirklichkeit um des kommenden Heils zu erdulden. Die negativ konnotierte Wirklichkeit erfährt dadurch aber eine paradoxe Aufwertung als Movens und unverzichtbare Station des Heilsgeschehens.
Im tiefgründigen Blick auf die widerständige, "unvernünftige" Wirklichkeit besteht für Auerbach das christliche Erbe in der literarischen Wirklichkeitsdarstellung. Berühmt ist das erste Kapitel von "Mimesis", das einen Abschnitt aus Homers "Odyssee" mit der Szene des Isaakopfers im Alten Testament konfrontiert und dabei die existentielle Vertiefung der Darstellung im biblischen Text herausstellt.

Ein Gewinn für "Mimesis"-Leser

Das antike Ideal einer stoischen Distanz zur Welt und zu den Leidenschaften ist für Auerbach das Gegenteil des christlich-jüdischen Lebensgefühls: Jesus Christus habe in "immerwährender Spannung" zur Welt existiert.
Sehr überzeugend profiliert Bormuth diese Ideen schließlich im Kapitel über Erich Auerbach und Karl Löwith, der mit seinem aristokratischen und nietzscheanisch-antichristlichen Lebensideal die Gegenposition einnimmt. Vor allem für die Leser von "Mimesis" ist dieses intellektuelle Porträt ein Gewinn.

Matthias Bormuth: Erich Auerbach. Kulturphilosoph im Exil
Wallstein Verlag, Göttingen 2020
144 Seiten, 18 Euro

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