Mathias Greffrath zu 150 Jahre "Das Kapital"

"Marx ist natürlich ein grandioser Polemiker"

Das Karl-Marx-Monument in Chemnitz
Das Karl-Marx-Monument in Chemnitz © imago stock&people/ Schöning
Matthias Greffrath im Gespräch mit Ute Welty · 10.06.2017
Vor 150 Jahren erschien "Das Kapital" von Karl Marx. Auf der "phil.cologne" in Köln diskutieren Philosophen, Publizisten und Unternehmer darüber, darunter auch der Soziologe Matthias Greffrath. Für ihn war es eine "große Lust" das Werk zu lesen.
Ute Welty: "Aller Anfang ist schwer", so schreibt Karl Marx im Vorwort zu dem Buch, das sein wissenschaftliches Hauptwerk ausmacht, und bis heute ist "Das Kapital" ein Bestseller. 150 Jahre ist es jetzt her, dass der erste Band erschienen ist, über dessen Wert und Mehrwert immer wieder gestritten wird und noch mehr gestritten werden sollte, meint zumindest Mathias Greffrath, der zum Jubiläum des Buches ein Buch herausgegeben hat, "Re: Das Kapital: Politische Ökonomie im 21. Jahrhundert". Heute Abend kann sich der Publizist und Soziologe weiter auseinandersetzen im Rahmen der "phil.cologne", dort findet nämlich der große Abend über Karl Marx statt, aber bevor es soweit ist, wünsche ich einen guten Morgen, herzlich Willkommen in "Studio 9", Mathias Greffrath!
Mathias Greffrath: Guten Morgen!
Welty: Aller Anfang ist schwer – galt das auch für Ihre erste Begegnung mit dem Kapital?
Greffrath: Kann man wohl so sagen, kann man wohl so sagen. Einerseits ja, einerseits nein. Nein, weil damals die Situation 1967,1968 im Grunde ja eine Marx-Renaissance war, und nicht nur Marx, sondern auch Freud und alle möglichen anderen vergessenen Denker, Theoretiker wurden ja von der Studentenbewegung damals wieder ans Licht des Universitätstages geholt. Es gab damals an allen Universitäten, jedenfalls in Frankfurt und in München und in Hamburg und in Berlin, "Kapital"-Kurse, wo man über Semester geradezu dieses Werk studiert hat, weil man sich erhofft hat, damit die Wirklichkeit, in der wir leben, besser zu verstehen.
Ich glaube, das braucht man heute nicht noch mal. Also da ist auch viel Zeit verloren worden, und viele sind, sagen wir mal, in den ersten vier Kapiteln dieses Werkes, wo es doch sehr hegelianisch, philosophisch zugeht, über die Wertform, stecken geblieben. Marx selbst hat ja seinen Lesern damals geschrieben, also wenn ihr schnell durchkommen wollt, dann fangt doch im vierten Kapitel an, da geht es mit dem Mehrwert los, da geht es mit dem Kapital los, lest die historischen Kapitel … man kann auch in Marx ertrinken. Das muss nicht sein.
Welty: Jenny Marx, die Ehefrau von Karl Marx, hat ja ihrerseits einem befreundeten Sozialisten empfohlen, die dialektischen Spitzfindigkeiten am Anfang einfach zu überspringen.
Greffrath: So ist es.

Eine literarische Glanzleistung

Welty: Das klingt jetzt nicht nach einer literarischen Glanzleistung.
Greffrath: Obwohl man muss sagen, das Buch ist eine literarische Glanzleistung. Wenn man jetzt diese philosophischen Kapitel, die auch glänzend sind, aber doch sehr schnell sehr viel Vorbildung voraussetzen, wenn man die mal beiseite lässt, dann ist Marx natürlich ein grandioser Polemiker. Er ist jemand, der nicht nur abstrakt über das Kapital schreibt, sondern auch in den historischen Kapiteln über das Elend, über die Ausbeutung der Frauen, also bis hin dass er ein Epitaph setzt, im Grunde, einer englischen Putzmacherin, die 27 Stunden hintereinander ohne Pause arbeiten musste und dann starb, was damals ein großer Skandal war.
Er ist ein glänzender Polemiker, wenn er über die breimäuligen Faselhänse der deutschen Vulgärökonomie herzieht. Also es ist auch eine Lust zu lesen. Also so wie Darwin und Freud ist auch Marx der dritte große Revolutionär der Sozialwissenschaften, ein grandioser Stilist, und das macht Freude, ihn zu lesen. Nicht nur die Frühschriften, sondern selbst "Das Kapital", wenn man, wie gesagt, entweder über philosophische Vorbildung verfügt oder wenn man sagt, das lassen wir erst mal weg, das lesen wir am Schluss.
Welty: Inwieweit haben Sie daraus Kapital geschlagen, dass Sie "Das Kapital" gelesen haben?
Greffrath: Ja, ich würde sagen, Marx verschafft einem wirklich Kategorien, intellektuelles Rüstzeug, mit dem man eine Weltkarte sich konstruieren kann, in die man dann später sehr viel anders einordnen kann. Natürlich, der Kapitalismus hat sich verändert in den 150 Jahren. Es gab das Finanzwesen noch nicht, es gab die Konsummanipulation durch Werbung noch nicht. Also der Kapitalismus hat sich verändert, aber im Grunde hat sich die Grundstruktur, die Anatomie, sagen wir mal sozusagen, die ist immer noch da. Physiologisch müssen wir einiges uns jetzt noch dazudenken.

Marx' Theorie fest im Volk verankert

Das ist das eine, und das andere ist, die Kategorien von Marx sind ja nicht nur analytische, sondern sie sind eben auch moralische, und gerade die Kategorie des Mehrwerts, über die ich da auch in dem Buch geschrieben habe, neben den vielen anderen Autoren, ist ja eine, die sagt, eine Gesellschaft kann man nur begreifen als einen arbeitsteiligen Zusammenhang, an dem alle beteiligt sind, im Grunde von der Putzfrau bis zum Ingenieur. Alle miteinander schaffen von Jahr zu Jahr oder vergrößern das Sozialprodukt, und deshalb haben alle einen Anspruch auf dieses Sozialprodukt. Das ist sozusagen dann, wenn Sie so wollen, der moralische Mehrwert an der Marx‘schen Theorie, und ich denke, der ist, denke ich, bis heute und der ist ja auch, ich will fast sagen: im Volk bis heute fest verankert.
Was man sieht an solchen trotzigen Reaktionen wie der Wahl in England gerade, wo die Linke, und zwar eine durchaus traditionelle Linke, wieder gewonnen hat, obwohl die gesamte Presse, fast die gesamte Presse Englands und des Kontinents geschrieben hat, hier kommen die alten marxistischen Zausel, und das wird ja alles nichts mehr. Die Leute wissen eigentlich, die Leute haben ein moralisches Gespür dafür, dass es irgendwie nicht richtig ist, wenn alle arbeiten und nur einige davon was haben, und das ist letztlich das, was von Marx bleibt.
Welty: Aber ist es nicht so, dass das, was Sie da beschrieben haben, was in Großbritannien zu beobachten ist, immer nur so ein Aufflackern ist, denn so grundsätzlich lässt sich ja mindestens genauso beschreiben, dass es eine Orientierung nach rechts gibt und weniger eine Orientierung nach links, was Wahlen angeht beispielsweise.
Greffrath: Na ja, gut, da muss man sagen, auch Marx sagt nicht, dass es einen Automatismus gibt. Es gibt keinen moralischen Automatismus, es gibt keinen politischen Automatismus. Es gibt die schöne Stelle irgendwo in Marx, wo er sozusagen an die Proletarier seinerzeit gerichtet schreibt: Wenn ihr euch nicht organisiert, wenn ihr euch nicht bildet, wenn ihr nicht arbeitet an eurer Befreiung, dann werdet ihr als eine unterschiedslose Masse armer Teufel enden, denen keine Erlösung mehr helfen kann.

Heutzutage fehlen linke Intellektuelle wie Marx

Und es ist sozusagen von Generation zu Generation wieder die Aufgabe, diese Erkenntnisse, die man hat, umzusetzen in Praxis, oder um es mal mit ganz jemand anders zu sagen, mit Niklas Luhmann, der nun wahrlich kein Marxist war, eine Aufklärung, die sich organisiert, die muss zu Arbeit werden, zu politischer Arbeit jeden Tag, und Marx war ja dann eben doch nicht nur ein Theoretiker, sondern auch ein Praktiker, der am Aufbau der proletarischen Bewegung seiner Zeit sehr heftig mitgewirkt hat, und wenn etwas fehlt heutzutage, dann sind es vielleicht Intellektuelle, die uns nicht mehr die Welt erklären, sondern die auch den Parteien, den linken Parteien Parolen, Ziele und Mittel an die Hand geben.
Welty: Der Publizist und Soziologe Mathias Greffrath diskutiert heute Abend auf der "phil.cologne" über 150 Jahre "Kapital" und über Karl Marx, und die wichtigsten Punkte, die gab es schon mal vorab hier im "Studio 9"-Gespräch. Dafür herzlichen Dank, Herr Greffrath!
Greffrath: Noch eins dazu: Man kann es auf WDR5 im Netz hören heute Abend ab 21 Uhr, die ganze Diskussion, zwei Stunden lang.
Welty: Soweit der Programmtipp.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. DLFKultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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