Mathias Greffrath liest ein Bild

Im Palazzo schwappt die Brühe

06:43 Minuten
Das Foto zeigt einen Raum im überfluteten Gritti-Palast während des außergewöhnlichen Hochwasserstandes am 12. November 2019 in Venedig. An der Wand hängt ein Gemälde zwischen einer sehr alten Bücherwand. Im Vordergrund im Wasser stehend steht ein Sofa auf dem der Teppich abgelegt wurde.
Wen traf der Zorn des Dogen? Ein feuchter Teppich weckt Mathias Greffraths Phantasie. © AFP / Marco Bertorello
Mathias Greffrath im Gespräch mit Joachim Scholl · 26.11.2019
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Ein Bild vom Hochwasser in Venedig erscheint dem Publizisten Mathias Greffrath wie ein mahnender Vorausblick auf den Untergang der europäischen Hochkultur. Das Foto zeigt eine Bibliothek im noblen Palazzo Gritti, in der das Wasser steht.
Die Wetter-Katastrophen-Bilder aus ganz Europa reißen nicht ab. Kulturell besonders desaströs hat es Venedig getroffen. Hochwasser in mehreren Wellen schwappte durch die Lagunenstadt. In diesem dramatischen Tableau fiel dem Publizisten Mathias Greffrath ein Bild des Pressefotografen Marco Bertorello auf.

Visconti trifft Shakespeare auf dem roten Sofa

Das düstere, in Holz ausgekleidete Interieur mit schweinsledernen Bücherrücken im Hintergrund wirke auf ihn, "als hätte Visconti Shakespeare verfilmt", so Greffrath.
Angesichts des faltenreichen, auf einem roten Sofa zusammengerollten Teppichs komme ihm der Schauplatz eines Verbrechens in den Sinn: "Man guckt nach dem Dolch wegen der Leiche im Teppich und fragt sich: Was ist hier geschehen? Wer ist der Täter?"
Was auch immer dem festgehaltenen Moment vorausging, es spielte sich unter den Blicken des Dogen Andrea Gritti ab. Sein Porträt ist auf einem Gemälde von Tizian über dem Sofa zu sehen: "Der guckt finster und indigniert auf diese Szene, als wollte er sagen: Was habt ihr aus meinem Venedig gemacht?"

Nasse Füße für Arme und Reiche

In der oberen Hälfte des Bildes ist das historische Ambiente noch intakt, aber unten gluckert die Brühe. Eine ernüchternde Allegorie auf die Verletzlichkeit noch der erhabensten Kultur durch selbstvergessenen Konsum. "Was Kriege nicht geschafft haben, was die Pest nicht geschafft hat, was tausend Jahre Geschichte nicht geschafft haben, das schafft jetzt die Menschheit insgesamt mit unserem kleinem kleinen CO2-Problem, das wir produzieren", so Greffrath.
In den 1980er Jahren habe die Sozialdemokratie noch mit dem Versprechen geworben: "Wir kämpfen für den Erhalt der Arbeiterkultur im Ruhrgebiet und gegen den Untergang von Venedig", erinnert sich der Publizist. "Es könnte sein, dass unsere Urenkel diesen Kampf nicht mehr kämpfen müssen."
Die besondere Symbolik des Fotos liege für ihn jedoch in dem Umstand, dass der überschwemmte Palazzo heute ein Luxushotel beherberge: "Diese Sache trifft die Armen wie die Reichen. Ob daraus eine neue Koalition wird, das muss man sehen."
(fka)
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