Mathias Énard: "Das Jahresbankett der Totengräber"

Ein farbensattes, wuchtiges Gemälde

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Buchcover "Das Jahresbankett der Totengräber" von Mathias Énard
Gelehrt, unterhaltsam und humorvoll: "Das Jahresbankett der Totengräber" von Mathias Énard. © Deutschlandradio / Hanser
Von Dirk Fuhrig · 17.05.2021
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Der Schriftsteller Mathias Énard schreibt in seinem neuen Roman über das ländliche Leben in Frankreich. Dabei dringt er auch tief in die Kultur- und Literaturgeschichte des Landes ein.
Die jährliche Zusammenkunft der Totengräber ist ein üppiges Festmahl. Es wird hemmungslos geschmaust und gesoffen, nach alter Väter Sitte: Würste und Wein, Braten und Trüffel, dazwischen Trinksprüche und philosophische Betrachtungen. Die Zunft der Bestatter, die sich das ganze Jahr mit dem Tod beschäftigt, feiert an diesem einen Tag das Leben.
Énard, selbst nicht nur Schriftsteller, sondern auch Koch und Restaurantbesitzer, taucht in seiner Beschreibung dieses ländlichen Gelages tief in die Kultur- und Literaturgeschichte ein. Der Balladen-Dichter François Villon steht ebenso Pate wie François Rabelais, der mit seinem Roman über die Riesen "Gargantua und Pantagruel" im 16. Jahrhundert mit seinen respektlosen, mitunter derben Texten die klassische Literatur um eine volkstümliche Farbe bereichert hatte. Der "gargantueske Appetit" ist sprichwörtlich geworden.
Dieses barocke Fresko, das sowohl die Sinnenfreude beschwört, als auch die Mühsal des Alltags auf dem Land skizziert, ist eingebettet in eine Rahmenhandlung, die in der unmittelbaren Gegenwart angesiedelt ist: David Mazon, ein aufstrebender Jung-Ethnologe, mietet sich auf einem Bauernhof in Westfrankreich ein.
Der Nachwuchswissenschaftler will Feldforschung betreiben für seine Doktorarbeit. Mazon ist ein leicht blasierter Hauptstädter, der sich bald als wissenschaftlicher Versager entpuppt. An Land und Leuten lernt er nicht nur den Totengräber kennen, der gleichzeitig Bürgermeister mit leichtem Hang zur Fremdenfeindlichkeit ist, sondern auch Angler und Jäger, Großstadtflüchtlinge und britische Touristen in ihrem Ferienhaus. Eine Vielzahl unbeugsamer, unangepasster Charaktere. Und natürlich findet der sexuell unausgelastete junge Mann auch bald eine Liebschaft.

Énards Stil ist meisterhaft

Die Verschränkung der Zeit- und Stilebenen ist ziemlich waghalsig. Während die Rahmenhandlung sehr leicht und spöttisch dahinerzählt wird, ist die historische Folie nicht immer einfach zu entschlüsseln. Die literarischen Referenzen verästeln sich zunehmend. Alte Chansons werden als "Zwischenspiele" ebenso in den Text eingefügt wie Grafiken mit Konstellationen beim Kartenspiel. Volkstümliche Traditionen, mittelalterlicher Aberglaube, mündliche Überlieferung. In der Kleinstadt Niort, in der der Roman spielt, ist Mathias Énard selbst aufgewachsen. Explizit bezieht er sich auf Erinnerungen seines eigenen Vaters an die Heimatregion.
Énard verschmilzt existenzielle Fragen mit den Banalitäten des Alltags. Schlachtenlärm des Mittelalters trifft auf den Geruch von Blutwurst und Brathähnchen am mobilen Marktstand eines Metzgermeisters. Das "Rad des Lebens", die buddhistische Lehre von der Wiedergeburt, gliedert als Ordnungsprinzip und philosophischer Überbau dieses Generationen umspannende Epos.
Mathias Énards meisterhafter Stil hält dieses farbensatte, wuchtige Gemälde zusammen. "Das Jahresbankett der Totengräber" ist ein über alle Maßen gelehrter, dabei aber äußert unterhaltsamer und humorvoller Roman.

Mathias Énard: "Das Jahresbankett der Totengräber"
Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller
Hanser Berlin 2021
480 Seiten, 26 Euro

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