Mathematikerin Hélène Esnault

Mathematik kennt keine Klassenschranken

Zwei Hände halten einen Zauberwürfel, der kurz vor der Lösung steht.
Heute forscht Hélène Esnault zur Algebraischen Geometrie. Ihr Weg dahin war weit. © Unsplash / Olav Ahrens Røtne
Moderation: Ulrike Timm |
Für Mathematik braucht man viel Leidenschaft, sagt Hélène Esnault, und damit hat sie es in dieser Wissenschaft weit gebracht. Obwohl sie keinen leichten Start hatte, was weniger an Zahlen lag als an Klassenzugehörigkeiten.
Sie lebt nicht nur im Elfenbeinturm mathematischer Abstraktion, sondern ist auch ein politisch denkender Mensch. Und darum dreht sich ein Gespräch mit der Mathematikerin Hélène Esnault am Tag nach der Stichwahl um die französische Präsidentschaft erst einmal um den Sieg von Emmanuel Macron.
Über den sei sie erleichtert, sagt Esnault, die neben der französischen auch die deutsche Staatsangehörigkeit hat, denn die Alternative, die Rechtspopulistin Marine Le Pen, wäre „furchtbar“ gewesen. Dennoch sei sie traurig, weil Macron keine Antworten auf die Probleme der ärmeren Menschen in Frankreich anbiete.

Kein fließendes Wasser

Damit geht es Hélène Esnault wie vielen eher linksstehenden Franzosen. Und sie, die zu den bedeutendsten Mathematikerinnen der Gegenwart zählt, weiß, was Armut bedeutet. Geboren in den 1950er-Jahren als Tochter eines Fabrikarbeiters und einer Krankenschwester, kam sie zunächst zu einer Pflegemutter, denn in der elterlichen Einzimmerwohnung gab es nicht einmal fließendes Wasser.
Aufgewachsen in einer Arbeiter-Vorstadt von Paris schaffte sie es als eine von wenigen aus ihrem Milieu aufs Gymnasium. Doch spätestens bei den Vorbereitungskursen für die Elite-Universität, an der sie Mathematik studieren wollte, wurde ihr „ganz hart“ klargemacht, dass sie als Arbeiterkind eigentlich nicht dazugehörte: Falscher Wohnort, falscher Akzent, der Vater Kommunist – in der damaligen französischen Klassengesellschaft keine guten Karriere-Voraussetzungen.

Karriere in der Klassengesellschaft

Dass sie sich gerade Mathematik ausgesucht hatte, lag auch daran, dass der ihr fehlende Stallgeruch der französischen Oberschicht hier letztlich doch nicht die entscheidende Rolle spielte. „Mathematik hat keinen Geruch“, sagt sie, in diesem Fach gehe es um richtige oder falsche Lösungen von Problemen, ohne Ansehen der Person.
Und mit Beharrlichkeit und Begabung schaffte es Hélène Esnault sehr weit nach oben in der Mathematik, wurde – gemeinsam mit ihrem Ehemann – mit dem Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft ausgezeichnet und mit der Georg-Cantor-Medaille der Deutschen Mathematiker-Vereinigung.

Kriege, einst und jetzt

Nach Deutschland brachte sie die Liebe zum deutschen Mathematiker Eckart Viehweg, der später ihr Ehemann wurde. Ihre Mutter war davon wenig begeistert, ihr Vater aber umso mehr, obwohl er während des Kriegs als Mitglied der französischen Résistance gegen die deutschen Besatzer gekämpft und sich nur durch einen halsbrecherischen Sprung aus einem Bahnwaggon vor der Deportation ins KZ Buchenwald hatte retten können.
Als Mathematikerin beackert Hélène Esnault das Feld der Algebraischen Geometrie, über deren tiefste Probleme sie sich weltweit nur mit wenigen Menschen unterhalten kann, so speziell sind sie. Viele ihrer Fachkollegen stammen aus Russland oder der Ukraine, sie selbst spricht auch russisch, und darum bereitet ihr der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine großen Schmerz.
Die russische Gesellschaft werde sich den Verbrechen, die Truppen ihres Landes derzeit begehen, stellen müssen, sagt die französisch-deutsche Mathematikerin, so wie die Deutschen nach dem Krieg den Untaten der Nazis. Und die Auseinandersetzung mit dieser Schuld sei eine Aufgabe für Generationen – hier wie dort.
(pag)
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