Masha Gessen: "Leben mit Exil. Über Migration sprechen"

Das Fremde nahebringen

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Buchcover von Masha Gessens "Leben mit Exil" vor orangefarbenem Aquarellhintergrund.
In Masha Gessens Buch geht es um den Kontext von Exil, Flucht und Migration. © Suhrkamp Verlag / Deutschlandradio
Von Carsten Hueck · 27.08.2020
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In den abgedruckten Vorträgen erzählt die Publizistin Masha Gessen die Biografien von 58 Migranten, um ihnen so ihr Menschsein zurückzugeben. Denn die Art, wie und mit welchen Worten über Geflüchtete berichtet wird, sei nicht angemessen, kritisiert sie.
Nach den Terrorangriffen vom 11. September 2001 druckte die "New York Times" über Monate hinweg an die dreitausend Kurzbiografien von Menschen, die bei den Anschlägen umgekommen waren. "Sie faszinierten, obwohl sie eher langweilig waren", sagt die amerikanisch-russische Schriftstellerin Masha Gessen in einem von drei Vorträgen, die nun gedruckt auf Deutsch unter dem Titel "Leben mit Exil. Über Migration sprechen" vorliegen.

Geschichten vorstellbar machen

Zentrales Anliegen der drei Vorträge ist es, den Kontext von Exil, Flucht und Migration zu veranschaulichen, das Sprechen über diese Themen zu reflektieren und ein Erzählen jenseits von vernebelnden Schlagwörtern wie "Flüchtlingswelle", "Asylbetrüger" oder "illegaler Grenzübertritt" möglich zu machen.
Die Aktion der "New York Times" hat Masha Gessen inspiriert, in einem ihrer Vorträge jeweils knapp die Geschichten von 58 Migranten zu erzählen. Gessen, die selbst im Alter von vierzehn Jahren mit ihren Eltern aus Russland in die USA migrierte, besitzt spezielles Wissen über sie, hat sie auf der Flucht kennengelernt oder bereits über sie geschrieben.
Geschichten von Exil und Migration seien, so die Autorin, dramatisch, immer fremdartig und im Grunde unvorstellbar. Denn wer sie liest, könne sich mit ihnen, anders als mit den Leben gewöhnlicher New Yorker, nicht identifizieren.
Es sind Geschichten von Menschen aus dem Kosovo, aus Albanien, aus Russland, Tschetschenien, dem Iran oder Mexiko. Sie verlassen ihre Heimat, weil ihr Leben aufgrund der gesellschaftlichen Verhältnisse, ihrer politischen Einstellung oder ihrer sexueller Orientierung bedroht ist.
Warum aber sollte das "unvorstellbar" sein? Weil die Geschichten heimatloser Menschen, so die Autorin, durch einen Bruch geprägt sind. "Der Verlust der Heimat ist eine unheilbare Krankheit", konstatiert sie, und schlägt vor, nicht von Personen im Exil zu sprechen, sondern von "Personen mit Exil".

Die "Trump-Verschiebung"

Gessen kritisiert die Art der Berichterstattung über Geflüchtete, die sich zunehmend dem Sprachgebrauch der Immigrationspolitik annähert. "Trump-Verschiebung" nennt sie das. Formulierungen wie "Karawane" oder "Migranten" seien eben nicht angemessen, wenn von Menschen die Rede ist, die fliehen, um Sicherheit zu finden.
Porträt der russisch-amerikanischen Journalistin Masha Gessen als sie 2019 zu Gast auf der Leipziger Buchmesse war. 
Masha Gessen war 2019 zu Gast auf der Leipziger Buchmesse.© picture alliance / ZB / Jan Woitas
Erst wenn diese als Bürger in einer Gemeinschaft ihre Rechte einfordern könnten, seien sie vollwertige Menschen. Um dieses durch die Migration oder Flucht beschnittene Menschsein wiederherzustellen, müssten gerade Schriftsteller und Schriftstellerinnen sowie Journalisten und Journalistinnen die Geschichten der Betroffenen erzählen, einen Kontext und ein Publikum herstellen.
Am überzeugendsten wirkt Masha Gessen in ihren von Hannah Arendt und Edward Said grundierten Vorträgen, wenn sie über ihre eigene Geschichte spricht. Gessen ist als Jugendliche von Russland in die USA emigriert und als Korrespondentin von dort zurück nach Russland gezogen.
2013 verließ sie Russland ein zweites Mal, aus Sorge, die russischen Behörden könnten ihr das Sorgerecht für ihre Kinder absprechen. Sie betont das Moment der Wahl: Ein Migrant sei jemand, der nicht vor etwas flieht, sondern sich für etwas entscheidet. Das erfordere Mut und Vorstellungskraft. Und bringt uns den Fremden näher.

Masha Gessen: Leben mit Exil. Über Migration sprechen. Drei Vorträge
Aus dem Englischen von Ursel Schäfer
Berlin, Suhrkamp Verlag, 2020
98 Seiten, 12 Euro

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