Marx-Engels-Gesamtausgabe

Keine Bibel für die Weltrevolution

Statuen von Karl Marx und Friedrich Engels in einem Park an der Spree in Berlin-Mitte; geschaffen wurden sie 1986 von Ludwig Engelhardt.
Statuen von Karl Marx und Friedrich Engels in einem Park an der Spree in Berlin-Mitte; geschaffen wurden sie 1986 von Ludwig Engelhardt. © imago/ZUMA Press
Von Paul Stänner |
Anmerkungen, Überkritzelungen und an manchem Papier hat schon die Maus genagt. Die Edition der Schriften von Karl Marx und Friedrich Engels ist ein Mega-Projekt – allerdings mit eindeutigen wissenschaftlichen Befund: Eine neue Theorie wollten die beiden nie schaffen. Ihnen ging es um Kritik an den zu ihrer Zeit bekannten Philosophien.
Die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, die die Herausgabe der Marx-Engels-Gesamtausgabe betreut, hat ein neues Konvolut aus dieser Reihe veröffentlicht, die "Deutsche Ideologie". Aus insgesamt 17 Handschriften und zwei Drucken wurde eine Edition zusammengestellt, die genauesten wissenschaftlichen Anforderungen genügen sollte. Der Textband und sein Kommentarband, beides sind daumenhohe Bücher, eröffnen völlig neue Einblicke in die Entstehungsphase der materialistischen Geschichtsauffassung - mit überraschendem Endergebnis.
Paul Stänner hat mit Gerald Hubmann, dem Leiter des Wissenschaftlerkollektivs, gesprochen.
Hubmann: "Die Marx-Engels-Gesamtausgabe bietet alle Schriften, den gesamten Nachlass und den gesamten Briefwechsel von Marx und Engels in authentischer Form und vollständig dar."
Gerald Hubmann und ich teilen eine frustrierende Erfahrung. Als junge Studenten - er in Frankfurt am Main, ich in Berlin West - sind wir beide nach wenigen Seiten gescheitert. Der unbezwingbare Fels war für uns die so genannte Deutsche Ideologie von Karl Marx und Friedrich Engels. Unleserlich! Unverständlich!
Ich habe aufgegeben, aber Dr. Gerald Hubmann hat durchgehalten: In der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften leitet Hubmann die Edition der Marx-Engels-Gesamtausgabe, in Fachkreisen nur mit Schaudern die "MEGA" genannt.
Hubmann: "Das, was man heute als die Deutsche Ideologie bezeichnet, ist eine Sammlung von Manuskripten, die aber nur fragmentarisch vorliegen und die stellenwese stark zerstört sind."
Wahrscheinlich aus diesem Grund, weil sie nur fragmentarisch überliefert ist, hat im MEGA-Projekt die jüngste Veröffentlichung, die so genannte Deutsche Ideologie, die größte Resonanz hervorgerufen. Denn die Deutsche Ideologie galt als die intellektuelle und philosophische Begründung einer Lehre, die die Welt verbessern und ein für alle Male zu einem Ort des Glücks machen wollte. Gerade der staatlich überwachte Marxismus verkündete die Lehre, dass in der so genannten Deutschen Ideologie der historische Materialismus und überhaupt die theoretischen Grundlagen des Marxismus begründet worden seien. Die Deutsche Ideologie war eine Art säkulare Bibel für die Gläubigen der Weltrevolution.
Hubmann: "Diese Manuskripte haben einen sehr unterschiedlichen Umfang. Das größte hat mehr als 400 Manuskriptseiten, die kleinsten Teile sind einzelne Sätze oder einzelne Blätter."
Eine aufreibende Arbeit, im Anfang konzipiert auf 114 Doppelbände, jetzt werden es einige weniger. Der Rest geht ins Internet.
Die Wissenschaftler - acht insgesamt, je vier aus dem Westen und vier aus dem Osten - hatten vor sich beispielsweise dieses eine Manuskriptblatt: Es ist vom linken Rand bis fast in die Mitte hinein in einem gleichmäßigen Halbkreis freigenagt. Da hat sich eine Maus sattgefressen. Auf der linken Hälfte ist Text in einer nach rechts kippenden Handschrift geschrieben. Und zur Hälfte wieder durchgestrichen. Für mich völlig unleserlich.

Die Marx-Engels'schen Gedankengänge in die richtigen Zusammenhänge bringen

Auf der rechten Bildhälfte ist ein Text in einer genauso unleserlichen, aber aufrecht stehenden Schrift geschrieben, mit massiven Streichungen und geschweiften Klammern, die auf die linke Seite verweisen. Wieviel von der rechten Seite links hätte eingeflochten werden sollen, kann man nur ahnen.
Die Wissenschaftler der Akademie aber haben mit inhaltlichen, historischen und technischen Hilfsmitteln gearbeitet, um die Marx-Engels'schen Gedankengänge in die richtigen Zusammenhänge zu bringen.
Hubmann: "Die Autoren korrigieren sich gegenseitig, Sätze werden nicht zu Ende geführt, Worte werden nicht zu Ende geführt, es gibt Streichungen, Randbemerkungen, also wir haben bei einzelnen Texten bis zu acht Textschichten feststellen können. Und diesen Schreibprozess in mehreren Textschichten in wechselseitigen Korrekturen in einer Edition abzubilden, das war die eigentliche Schwierigkeit, die zu meistern war."
Die wechselseitigen Korrekturen können für den Betrachter recht unterhaltsam seien. Friedrich Engels war ein begnadeter Zeichner von Gesichtsprofilen. In einer offenkundig langweiligen Viertelstunde skizzierte er Dutzende von ihnen auf einer Manuskriptseite. Dass darunter noch Text von Co-Autor Karl Marx steht, können nur Wissenschaftler erkennen.
Marx und Engels haben ihr Werk nie veröffentlicht. Ihnen reichte, dass sie durch den Schreib- und Überarbeitungsprozess ihre Gedanken und Vorstellungen präzisieren konnten. Dann überließen sie die Handschriften, wie Marx formulierte, der "nagenden Kritik der Mäuse".
Die Deutsche Ideologie - die vielleicht deswegen so berühmt wurde, weil man den Deutschen zutraute, in Grundsatzfragen besonders stringent und rechthaberisch zu sein - ist zu einer Heilslehre zusammengebastelt worden. Aber nicht von Marx und Engels, sondern von zunächst einmal sowjetischen und dann deutschen Redaktionsteams, die aus dem Wust von Schriften, Entwürfen und Überarbeitungen einen durchkomponierten Gedankengang erzwingen wollten.

Wissenschaft der Ökonomie und praktische Politik waren ihr Ziel

Hubmann: "1924 ist die erste Ausgabe erschienen der Manuskripte zur Deutschen Ideologie und damals hat man eben ein großes Interesse daran gehabt, theoretische Grundlagen des Marxismus zu formulieren. Und da kam diese Thematik, die Marx und Engels erstmals entwickeln, nämlich das grundsätzliche Verhältnis zwischen materieller Basis und gesellschaftlichem Überbau, Arbeitsteilung, geschichtlicher Entwicklung und so weiter - die stießen dort auf großes Interesse. Und man hat versucht, aus diesen Fragmenten eine Grundlegung einer Philosophie des historischen Materialismus zu konstituieren und es entsprechend arrangiert."
Das ist natürlich der Vorteil von Fragmenten - sie lassen sich je nach Wunsch und Willen ergänzen und in eine ideologisch zweckdienliche Ordnung zwingen. Jetzt aber stellte sich heraus, dass Karl Marx und Friedrich Engels das gar nicht beabsichtigt hatten. Ihr Projekt umfasste die Kritik bekannter philosophischer Gedankengänge, nicht aber die Komposition einer neuen Philosophie, erklärt Gerald Hubmann.
Hubmann: "Wir können heute sagen, dass mit Sicherheit nicht die Ausarbeitung einer neuen Theorie oder einer neuen Philosophie das Ziel von Marx und Engels war, sondern, das Ziel in diesen Manuskripten ist eine Kritik an der zeitgenössischen Philosophie."
Welch ein Hammer: Den Ideologen, die ja mit dem Ableben der Sowjetunion nicht ausgestorben sind, schwimmen die Felle davon. In Berlin erzählte man mir von einer chinesischen Werktätigen, die für das ZK der Kommunistischen Partei Chinas die Forschungsarbeiten der MEGA begleitet hat. Bei ihrer Rückkehr sieht sie sich in einer dramatischen Position: Die Partei hatte sie ausgesandt, aus Deutschland die letzten Erkenntnisse über die unumstößliche wissenschaftliche Begründung des Historischen Materialismus zu importieren, und nun kehrt sie zurück mit der Botschaft, das alles sei gar nicht so gemeint gewesen. Es gebe keinen Katechismus für Sozialisten und Kommunisten, sondern nur kritische Essays für das kritische Denken!
Wie soll sie der herrschenden Partei erklären, dass ausgerechnet die stringenten Deutschen nun alle gut gefügten ideologischen Grundlagen zertrümmert haben?
Hubmann: "Bezogen auf die deutsche Ideologie kann man sagen, Marx und Engels üben Kritik an der Philosophie und sie verlassen die Philosophie - das ist die Aussage der Deutschen Ideologie! Sie verlassen die Philosophie zugunsten einerseits in Richtung - wie sie immer wieder sagen - empirischer positiver Wissenschaft, und andererseits in Richtung Politik. Also nicht mehr Philosophie ist das Ziel, gerade nicht eine Grundlegung einer Philosophie, sondern das Verlassen der Philosophie, an ihre Stelle soll empirische, positive Wissenschaft und die Wissenschaft der Geschichte und die Wissenschaft der Ökonomie treten und praktische Politik."
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