Martin Stallmann: "Die Erfindung von ´1968`"

Wie unser Bild von '68 konstruiert wurde

"Die Erfindung von ´1968`"
Buchcover "Die Erfindung von ´1968`" und Polizisten gehen am 12.04.1968 auf dem John-F-Kennedy-Platz in Berlin mit Schlagstöcken gegen Demonstranten vor. © Verlag Wallstein/picture alliance/dpa/Foto: Konrad Giehr
Von Philipp Schnee · 09.09.2017
Studentenproteste, Rudi Dutschke, Benno Ohnesorg – Schlagworte, die heute für die 68er-Generation stehen. Dabei habe diese konkrete Bezeichnung erst Jahre später stattgefunden, so Martin Stallmann in "Die Erfindung von ´1968`". Maßgeblich daran beteiligt war das Fernsehen.
"68 – diese Zahl muss nur fallen und wir haben sofort jede Menge Bilder im Kopf."
Machen wir den Test, vielleicht noch mit etwas Unterstützung, moment… Sind sie da, die Bilder? Schlaghosen? Blumen? Fallende Bomben auf Vietnam? Wasserwerfer und Demonstranten im Laufschritt. BILD-Zeitungsschlagzeilen? Die blanken Hintern der Kommune 1? Der Heidelberger Historiker Martin Stallmann hat untersucht, wie die Bilder von 1968 uns prägen, die uns erreichen. Er hat die "68er"-Erzählung des deutschen Geschichtsfernsehens untersucht:
"Rudi Dutschke auf der legendären Ledercouch. Wir steigen direkt ein in die Diskussion von Club 2 aus dem Jahre 1978."
Zehn Jahre danach, Ende der 70er, begann die Kanonisierung: Hier ein Ausschnitt aus einer legendären, über dreistündigen Diskussionsrunde im österreichischen Fernsehen, die später, auf Grund ihres Erfolgs, in Deutschland wiederholt wurde.


Rudi Dutschke, der "Pullover der Revolution", und Daniel Cohn-Bendit lümmeln locker auf der Couch. Die Kontrahenten, der Politologe Kurt Sontheimer und der Journalist Matthias Walden sitzen, und damit haben sie schon fast verloren, etwas steif in ordentlichen Anzügen in den Studio-Sesseln.
"Daniel Cohn-Bendit lebt jetzt in Frankfurt . / Richtig / Kneipenwirt. / Jo Gott, nein, nix. Ich bin Arbeitsloser. / Arbeitsloser. /…und beziehe stolze 900 Mark vom deutschen Staat."
Daniel Cohn-Bendit grinsend, selbstsicher in der Pose des Politik-Strizzis, der auch mal nonkonformistisch die Beine auf den Couch-Tisch im Studio legt. Beide ehemaligen "Studentenführer" geben die entspannten Ex-Revoluzzer und Politik-Djangos, die locker lässig, mit einer Spur Machismus, über ihr Erbe plaudern.
Studentenführer Rudi Dutschke 
Der deutsche Studentenführer Rudi Dutschke (M) und seine Ehefrau Gretchen (l) bei einer Demonstration. Undatierte Aufnahme.© picture alliance/dpa/Foto: Rapp

Die Sicht der ehemaligen Aktivisten

Der für uns heute so selbstverständliche Begriff "68er-Generation" kam erst rund um den zehnjährigen Jahrestag auf. Nachträglich, so Stallmans Befund, als, wie hier, Zeitzeugen zu Wort kamen. Es dominierte die Sicht der ehemaligen Aktivisten, der Veteranen. Die "68er-Generation", sie sei nicht vorwiegend durch gemeinsame Erlebnisse in der Zeit selbst, sondern durch die Erzählung über die Protestjahre geprägt worden. Und vor allem, so Stallmann, habe sich auch erst nachträglich, in den 1980er-Jahren, die Erzählung eines "Generationenkonflikts" zwischen den NS-belasteten Eltern und den "68ern"-herausgebildet.
Er schreibt:
"Die lebensgeschichtlich spätere Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus projizierte man rückblickend in die Protestjahre zurück."
Fernsehsendung:
"Zusammenprall der Generationen – 1968, in einem Jahr weltweiter Jugendproteste, rebellieren auch in Deutschland die Studenten unter ihrem Wortführer Rudi Dutschke: – Die Provokationen werden gar nicht wahrgenommen..."

Der Tod von Benno Ohnesorg

Die Fernsehberichterstattung erzählt meist ein "kurzes 68". Viel wird kaum erwähnt: die Vorgeschichte, die gesamte Protestentwicklung seit den frühen 1960er-Jahren, die im Wesentlichen schon vor 1968 stattfand, die studentischen Proteste, die schon vor 1968 ihren Zenit erreichten, ebenso die Nachgeschichte. Erzählt wird im Fernsehen vor allem die Geschichte vom 2. Juni 1967, dem Tod des Studenten Benno Ohnesorg bis zum Attentat auf Rudi Dutschke am 11. April 1968. Stallmann schreibt:

"Einen zentralen Stellenwert bei den Erzählungen nahmen Gewaltbilder aus den Protestjahren ein: Sei es der am Boden liegende Student Benno Ohnesorg, die brennenden Lieferwagen der Bild-Zeitung oder der angeschossene Rudi Dutschke..."
Und damit folgt ein zweiter Befund des Buches: 68 wird sehr stark als "Gewaltgeschichte" begriffen. Und drittens: 1968 ist eine Chiffre, wird zu einer Zäsur in der bundesrepublikanischen Geschichte verdichtet. Vorher die verkrustete, autoritäre Adenauerrepublik, danach Aufbruch, Demokratisierung, gesellschaftliche Liberalisierung und Emanzipation. 68 gilt zeitweise, fast durch alle gesellschaftliche Milieus, als positive Wegmarke einer Umgründung der Bundesrepublik Deutschland. Und selbst Helmut Kohl spricht von der "heilsamen Unruhe" durch die 68er.


Stallmann beschreibt mit seinem Buch aber auch, wie sich das Handwerk der Fernsehdokumentation veränderte. Weg vom "Erklärfernsehen" hin zum "Erzählfernsehen", Infotainment statt Schulfunk: Weniger Politik, die Utopien und Theorien der 68er, mehr Alltagserfahrung und Popkultur. Deutlich wir das an der Verwendung von Zeitzeugen:
Studenten demonstrieren am 5. Juni 1967 in München aus Anlass der Tötung von Benno Ohnesorg.
Studenten demonstrieren am 5. Juni 1967 in München aus Anlass der Tötung von Benno Ohnesorg.© AP

Popkulturellen Erzählung und Kommune 1

Den Zeitzeugen, den gab es immer. Allerdings wandelte sich seine Funktion: schilderte er zunächst vor allem politische Zusammenhänge, war also als Experte und Analyst gefragt, waren es später vor allem die persönlichen Geschichten und Erfahrungen, die gefragt und erfragt wurden. Und mit dieser Hinwendung zur Alltags- und Popkulturellen Erzählung stieg besonders auch ein Protagonist auf: Die Kommune 1.
"Junge Leute die zusammenleben, sich die Köpfe heiß reden und freie Liebe machen und damit das Spießer-Nachkriegsdeutschland ordentlich provozieren…"
Stallmann schreibt trocken:
"Die Bedeutung der Kommune 1 für eine zunehmende Toleranz in Bezug auf Sexualität innerhalb der bundesrepublikanischen Gesellschaft überhöhten die Fernsehbeiträge dabei nicht nur, sie übernahmen auch unkritisch boulevardeske Wirklichkeitserzählungen aus den Protestjahren."
Schade, dass sein Buch beim Geschichtsfernsehen zum 30 Jubiläum 1998 endet. Gerade der neuerliche Wandel, nachdem die 68er auch an der politischen Macht waren bis hin zum heutigen, sehr polarisierten "68er"-Bild wäre aufschlussreich gewesen. So wird Stallmanns Buch ein Buch für Spezialisten bleiben. Für üppige 400 Seiten doch recht wenig überraschende Erkenntnisse. Und für ein Buch über das Fernsehen kommt eine Sache leider zu kurz: die Bilder.

Martin Stallmann: "Die Erfindung von ´1968`- Der studentische Protest im bundesdeutschen Fernsehen 1977-1998"
Wallstein, 2017
412 Seiten, 39,90 Euro

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