Martin Brüne: "Der unangepasste Mensch"

Small-Talk-Material statt tiefer Einsichten

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Buchcover zu Martin Brünes "Der unangepasste Mensch" vor einem Aquarell-Hintergrund.
Das Thema ist sehr interessant, die Umsetzung aber nicht wirklich gelungen, beurteilt unser Kritiker Martin Brünes Buch. © Klett-Cotta / Deutschlandradio
Von Volkart Wildermuth  · 16.09.2020
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Der Mensch ist gesundheitlich gesehen erschreckend labil im Vergleich zu seiner starken kulturellen Entwicklung. Gründe dafür sucht der Psychiater Martin Brüne in "Der unangepasste Mensch" in der Evolution: anekdotenreich - aber inhaltlich oft zu flach.
Evolution und Psyche – ein großes Thema und große Fußstapfen, in die Martin Brüne tritt. Denn warum wir Menschen trotz rasanter kultureller Fortschritte psychisch und physisch so erstaunlich anfällig für Krankheiten sind - das hat seit Charles Darwin schon eine Vielzahl von Autoren versucht herauszufinden.
Und wie viele andere versucht der Bochumer Psychiater und Neurologe auch, die menschlichen Eigenheiten aus den Lebensumständen unserer Vorfahren zu erklären und unsere Krankheiten als die Probleme eines Steinzeitkörpers in der Konsumgesellschaft zu deuten. Auf der Suche nach Antworten blickt er deshalb in zehn Kapiteln auf unseren Ursprung zurück.

Vom Nutzen der "Be-Pfotung"

Tatsächlich kann ein evolutionärer Blick überraschende und auf dem Feld der Medizin auch sehr relevante Erkenntnisse hervorbringen. Die entdeckt man immer wieder auch im Buch von Martin Brüne, aber leider findet der Autor keinen originellen Ansatz.
Im Grund ist der Psychiater und Neurologe ein Faktenbienchen. Er trägt hier etwas zum Mikrobiom zusammen, dort etwas über das Sozialleben der Neandertaler und nippt auch mal am topaktuellen Forschungsgebiet der Epigenetik. Dann wieder setzt er uralte Studien neben neueste Erkenntnisse, gerne garniert mit der eigenen politischen Überzeugung zu Hedgefonds oder Tierversuchen.
Beim Lesen stolpert man hinterher und fragt sich: Warum muss in einem Buch über Evolution mitgeteilt werden, dass "weise" von "wissen" abstammt und nicht von "weiß", beides aber auf das althochdeutsche Wort "wiz" zurückgeht?
Dabei schreibt Martin Brüne durchaus unterhaltsam. Den heilsamen Einfluss von Tieren bezeichnet er als "Be-Pfotung statt Be-Handlung". Die Gleichgültigkeit der Evolution für das individuelle Wohlergehen erklärt er mit dem Satz: "Besser unglücklich viele Nachkommen haben, als glücklich ohne Nachwuchs zu bleiben."
Dabei umschifft Brüne spannende Fragen im Zusammenhang mit der Evolution - etwa die zur Rolle von Frau und Mann. Und betont dafür immer wieder, dass die menschliche Psyche eben nicht von einer einheitlichen Umwelt der evolutionären Angepasstheit geprägt wurde.

Flott verpackt, inhaltlich schwach

Die flotte Verpackung kann aber über die inhaltlichen Schwächen nicht hinwegtäuschen. Das ist besonders ärgerlich bei Brünes eigenem Fachgebiet. Hinter einer Schizophrenie stecke ein einzelliger Parasit namens Toxoplasma gondii, so eine These, die auch in der Forschung ernsthaft diskutiert wird. Spannend. Aber wenn es dann heißt, der Parasit gelte höchstens als Nebenverursacher, bleibt man ratlos zurück.
Richtig ärgerlich aber wird es, wenn der Autor Magersucht als unbewusste Hemmung der Menstruation im Rahmen einer langfristigen Lebensstrategie deutet und nahelegt, dass die schwere Erkrankung evolutionär möglicherweise eine Reaktion auf die Überflussgesellschaft sei. Eine Theorie, hinter der das Leid der Patientinnen komplett verschwindet.
"Der unangepasste Mensch" liefert so zwar viel interessantes Small Talk-Material für die nächste Party, aber wenig tiefe Einsichten darüber, wie weit die Anpassungsfähigkeit des Körpers und der Psyche an unsere kulturellen Entwicklungen tatsächlich reicht. Schade.

Martin Brüne: "Der unangepasste Mensch. Unsere Psyche und die blinden Flecken der Evolution"
Klett-Cotta, Stuttgart 2020
317 Seiten, 24 Euro

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