Die Evolution nach Rutger Bregman

Warum der Mensch von Natur aus gut ist

10:26 Minuten
Rutger Bregman vor einer Hausfassade
Rutger Bregman ist Journalist bei "The Correspondent" und gilt als einer der bekanntesten jungen Denker Europas. © laif / eyevine / Gary Doak
Rutger Bregman im Gespräch mit Dieter Kassel · 10.03.2020
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Nicht die Stärksten haben in der Menschheitsgeschichte überlebt, sondern die Freundlichsten, sagt der Journalist und Historiker Rutger Bregman. Der Autor des Buchs "Im Grunde gut" ist überzeugt: Kooperation ist die versteckte Supermacht des Menschen.
"Im Grunde gut" – so sieht der niederländische Journalist Rutger Bregman den Menschen, und so heißt auch sein neues Buch, das am heutigen Dienstag auf Deutsch erscheint. Es beansprucht nichts Geringeres, als "eine neue Geschichte der Menschheit" zu sein – so der Untertitel.
"Wir sind ja als Tierart weder besonders intelligent – die Neandertaler hatten zum Beispiel größere Gehirne als wir –, noch sind wir besonders stark. Wir sind nicht einmal besonders geschickt darin, auf Bäume zu klettern", sagt der Autor. "Aber wir haben diese versteckte Supermacht entwickelt, nämlich zusammenarbeiten zu können."

Die englische Originalfassung des Interviews mit Rutger Bregman können Sie hier nachhören:

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Solange der Mensch Nomade war, sei es nicht zum Überleben des Stärksten, sondern zum "survival of the friendliest", also zum Überleben der freundlichsten Art gekommen. "Dies alles änderte sich mehr und mehr grundstürzend vor 10.000 Jahren, als wir sesshaft wurden und den Ackerbau begannen", sagt Bregman. "So entstand das, was wir Zivilisation nennen. Und um das jetzt mal ganz schroff auszudrücken: Diese Zivilisation hat sich eigentlich im Wesentlichen als ein einziges großes Unglück herausgestellt."

Eine "Explosion des Altruismus"

Dennoch führe das Wesen des Menschen uns gerade bei Naturkatastrophen oder in Kriegen zur Zusammenarbeit, betont der studierte Historiker. "Es kommt dann geradezu zu einer Explosion des Altruismus und des Einanderhelfens."
Wenn das in der Öffentlichkeit wenig wahrgenommen wird, liegt das Bregman zufolge offenbar vor allem an den Medien. Denn diese nähmen solche Ereignisse stets zum Anlass, um über Plündereien von außer Rand und Band geratenen Massen zu berichten. "Wenn Wissenschaftler solide Forschungen vor Ort anstellen, stellt sich etwas ganz anderes heraus: dass nämlich in den Wellen von solchen Naturkatastrophen es gerade zu diesem Aufblühen von gesellschaftsfreundlichen, von altruistischen Verhaltensweisen kommt."
Das gelte auch für die Berichterstattung rund um das Coronavirus, betont Bregman. "Es kommt hie und da zu Hamsterkäufen, das ist ja unbestritten. Aber die Mehrheit der Menschen ist bereit, einander zu helfen. Doch derartige gute Nachrichten gelten einfach nicht als berichtenswert."
(uko)

Das komplette Interview mit Rutger Bregman:
Dieter Kassel: Der Mensch ist von Natur aus freundlich, hilfsbereit und gutmütig. Nichts weniger als das behauptet der niederländische Historiker Rutger Bregman in seinem neuen Buch "Im Grunde gut: Eine neue Geschichte der Menschheit", das heute in Deutschland erscheint. Ich habe mich mit ihm unterhalten und ihn gefragt, warum denn, wenn das wahr ist, wir nicht in einer freundlichen, hilfsbereiten und friedlichen Welt leben?
Rutger Bregman: Über lange Zeit hat sich unsere Art in der Tat stets auf mehr freundschaftliches Umgehen miteinander, auf Zusammenarbeit hin entwickelt. Das ist gar nicht die Frage. Die Frage ist jedoch, warum glauben wir dies nicht. Warum sind so viele von uns überzeugt, dass – obwohl Kollegen, Freunde und das Umfeld sehr umgänglich und zur Zusammenarbeit bereit sind – eben doch die anderen, die Fremden, die wir im Fernsehen sehen oder von denen wir in den Romanen lesen, garstige Menschen sind, die nicht dem entsprechen? Warum glauben wir so etwas?
Kassel: Interessanterweise geben Sie aber auf genau diese Frage in Ihrem Buch ja eine Antwort. Sie erklären nämlich, dass im Grunde genommen seit Jahrhunderten fast schon Wissenschaftler, Journalisten, Historiker – Sie haben es gesagt –, Schriftsteller und Lehrer manchmal in der Schule uns etwas ganz anderes erzählen über unsere Instinkte und die Menschheit. Ist das eine Art Gehirnwäsche gewesen?
Bregman: Es gibt da in der Kultur des Westens eine sehr alte Theorie, nämlich die Firnistheorie der Zivilisation. Sie besagt, dass unsere Zivilisation im Grunde nur eine dünne, oberflächliche Schicht sei, die aber sofort abblättere oder verschwinde, sobald irgendetwas Gewaltiges eintrete wie zum Beispiel Naturkatastrophen oder ein Schiffbruch auf einer einsamen Insel und dergleichen. Dass wir dann zurückfielen in unser eigentliches, tieferes Selbst, dass wir tief drinnen doch absolute Egoisten, geradezu tierisch getriebene Biester seien, die nur an sich selbst denken könnten.
Das einzige Problem mit dieser Theorie ist, dass sie nicht stimmt. Gerade jetzt in den letzten 15 bis 20 Jahren haben verschiedene Fächer aus ganz unterschiedlichen Richtungen – Soziologie, Kulturanthropologie, Psychologie – Befunde zusammengetragen, wonach die Natur des Menschen zu sehr viel mehr Hoffnung berechtigt. Es ist eine sehr viel optimistischere Sicht auf den Menschen: dass wir von Natur aus zur friedlichen Zusammenarbeit, zur Freundlichkeit bestimmt seien und dass gerade in Fällen von Naturkatastrophen, in Fällen von Kriegen oder ähnlichen schrecklichen Ereignissen, die Natur des Menschen uns alle zur Zusammenarbeit führt. Es kommt dann geradezu zu einer Explosion des Altruismus und des einander Helfens.
Kassel: Aber gerade, wenn wir über die Fassadentheorie reden, die Sie gerade erwähnt haben, die ja vereinfacht immer sagt, es gibt diesen Anschein von Zivilisation, und der ist ganz schnell weg, wenn wir Probleme bekommen. Können wir ganz kurz mal aktuell werden: Wenn ich beobachte, was gerade mit dem Coronavirus passiert: Da gibt es Leute, die kaufen Dosensuppen, Gesichtsmasken, sogar Toilettenpapier, damit sie es dann später für ganz viel Geld weiterverkaufen können, sollte die Krise schlimmer werden. Ist das nicht ein Beweis für die Fassadentheorie?
Bregman: Bei dieser sogenannten Coronakrise ist es dieses Bild, das uns die Medien überall vermitteln. Sie nehmen solche Naturkatastrophen, nehmen wir Erdbeben oder Tsunamis, stets zum Anlass, um von Plündereien, von außer Rand und Band geratenen Massen zu sprechen. Wenn Wissenschaftler solide Forschungen vor Ort anstellen, stellt sich etwas ganz anderes heraus, dass nämlich in den Fällen von solchen Naturkatastrophen es gerade zu diesem Aufblühen von gesellschaftsfreundlichen, von altruistischen Verhaltensweisen kommt.
Das Problem ist nur, dass die Medien sich überwiegend auf schlechte Nachrichten konzentrieren. Wenn man immer nur diesen Nachrichten folgt, stellt sich nach und nach ein komplett umgestürztes Weltbild ein, eine misgeleitete Sicht auf das, was in der Welt geschieht, und das gilt jetzt auch für dieses Virus. Es kommt hier und da zu Hamsterkäufen, das ist ja unbestritten, aber die Mehrheit der Menschen ist bereit, einander zu helfen. Doch derartige gute Nachrichten gelten einfach nicht als berichtenswert. So etwas schafft es in der Regel nicht in die Schlagzeilen der Zeitungen.
Kassel: Sie gehen ja sehr weit zurück in Ihrem Buch, und im Grunde genommen lernen wir aus diesem Buch, dass das Überleben der Stärkeren bei Darwin in Wirklichkeit, die Evolution also in Wirklichkeit, das Überleben der Freundlicheren gewesen ist. Aber wann hat das offenbar in der Geschichte der Menschheit plötzlich nicht mehr funktioniert?
Bregman: Stellen Sie sich vor, dass wir über Jahrtausende im Wesentlichen als nomadische Sammler zusammengelebt haben, in kleinen Gruppen von Gleichen, die es uns ermöglichten, zu überleben. Wir sind ja als Tierart weder besonders intelligent – die Neandertaler hatten zum Beispiel größere Gehirne als wir – noch sind wir besonders stark. Wir sind nicht einmal besonders geschickt darin, auf Bäume zu klettern, aber wir haben diese sehr versteckte Supermacht entwickelt, nämlich zusammenarbeiten zu können. Wir sind darauf hin angelegt, zusammenzuwirken.
Wir sind zum Beispiel die einzige Tierart, die errötet. Das ist doch ein faszinierendes Phänomen. Warum sollte es einen evolutionären Vorteil bieten, zu erröten und damit unwillkürlich etwas von seinen innersten Gefühlen preiszugeben. Die Biologen sind zur Ansicht gelangt, dass diese Eigenschaft dazu diente, Vertrauen und Zusammenwirken zu fördern, und wir können somit sagen, es kam nicht zum Überleben des Stärksten, survival of the fittest, sondern zum survival of the friendliest, also zum Überleben der freundlichsten Art.
Dies alles änderte sich mehr oder minder grundstürzend vor etwa 10.000 Jahren, als wir sesshaft wurden und den Ackerbau begannen. So entstand das, was wir Zivilisation nennen. Um das jetzt mal ganz schroff auszudrücken: Diese Zivilisation hat sich eigentlich im Wesentlichen als ein einziges großes Unglück herausgestellt.
Kassel: Wäre vielleicht der erste Schritt zu einer Veränderung, überhaupt bereit zu sein, über all das nachzudenken? Sie sagen ja auch ganz ehrlich schon in Ihrem Buch, dass es nicht einfach war, überhaupt einen Verlag zu finden, der ein Buch zu diesem Thema mit diesen Thesen veröffentlichen wollte.
Bregman: Ehrlich gesagt, ich war ja selbst ein eher zynischer Mensch in der Vergangenheit. Als Historiker schlägt man die dunkelsten Seiten der Menschengeschichte auf, und dann fällt es oftmals sehr schwer, an das Gute in der Menschheit zu glauben. Aber in den letzten 15 bis 20 Jahren haben Wissenschaftler Befunde zusammengetragen, die zu einer sehr viel zuversichtlicheren oder freundlicheren Sicht auf die Menschheit berechtigen.
Dann taucht die Frage auf, wie kann das aber sein, dass wir als die Art im Tierreich, die am meisten auf freundschaftliches Miteinander angelegt ist, auch zugleich die grausamste Tierart sein können, denn das stimmt ja auch. Es gibt keine andere Tierart, die gesagt hätte, zum Beispiel, dass Pinguine gesagt hätten, lasst uns alle anderen Pinguine ausrotten. All diese Verbrechen, die eigentümlich für den Menschen sind, bedürfen auch der Erklärung, zum Beispiel Dinge wie ethnische Säuberungen, der Holocaust oder ähnliches.
Der Beginn einer Antwort könnte in einer neuen Theorie von Biologen liegen, die Folgendes behaupten: Ja, wir haben uns als Art in der Evolution immer mehr zur Freundschaftlichkeit hin entwickelt, aber genau diese Freundschaftlichkeit kann zum Problem werden, denn sie kann in blinde Gefolgschaft umschlagen, und dann geschieht es, dass die Menschen Böses tun, nicht etwa, weil sie sadistisch veranlagt wären, sondern weil sie wirklich glauben, dass sie, indem sie den Befehlen folgen oder indem sie das vermeintlich Gute der Gruppe tun, etwas Gutes befördern, obwohl sie tatsächlich etwas Böses tun. Das ist dann eine sehr viel unbequemere Botschaft, die wir aber ebenfalls genau bedenken müssen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Rutger Bregman: Im Grunde gut. Eine neue Geschichte der Menschheit
Übersetzt von Ulrich Faure und Gerd Busse
Rowohlt Verlag, 2020
480 Seiten, 24 Euro

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